»In 90 Tagen um die Welt«, die das ZDF-Morgenmagazin täglich live via Satellit ausstrahlte. Micha und seinem Vitamin B, dem allgemein probaten Wegeebner und Sesam-öffne-dich, verdankte Mona ihr bescheidenes Haupteinkommen durch einen der begehrten Studentenjobs beim ZDF, dem Zweiten Deutschen Fernsehen oder auch dem Zentrum der Freude, wie einige Redakteure die Initialen gelegentlich schmunzelnd interpretierten. So! Nach der ganzen Aufregung benötigte sie erst mal ihren geliebten Milchkaffee. Die Espressomaschine war länger nicht benutzt worden, weil Mona in morgendlicher Hektik öfter schnellen Teebeutel-Darjeeling bevorzugte und natürlich …funktionierte die haarfeine Aufschäumdüse nicht. Vielleicht wegen der vollfetten Milch, die nicht hindurchpasste, genauso wenig wie das sprichwörtliche Kamel durchs Nadelöhr. Auch gut! Dann würde sie die Milch eben so hineinschütten. Oh nein, weißgraue Klümpchen formierten sich auf der schwarzbraunen Kaffeeoberfläche, sie war sauer und flockte aus. Shit Happens! Adieu Café au Lait! Ab mit dem Gebräu in den Ausguss und doch Schwarztee. Die Schrippe mit Quark und Omas selbstgekochter Blaubeermarmelade schmeckte köstlich. Troll schlürfte genüsslich an seinem Helau-Cocktail aus dem grauen Steinnapf, danach musste er erfahrungsgemäß immer gleich »Gassigehn«.
Die Schuhe auszuziehen, lohnte sich also nicht. Eine halbe Zigarette ging noch, dann stand Monas tierischer Logiergast, die Leine zwischen die scharfen Zähne geklemmt, auffordernd an der Wohnungstür. »Ja, ist ja gut, ich komme schon!«
Was für ein Stress am frühen Morgen!
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Den gleichen Weg, nur die diametrale Route, der Troll instinktiv folgte, denn er verrichtete seine Geschäfte ausschließlich in den grünen Gefilden der Zitadelle. Sie passierten seitlich die ansprechend dekorierten Marktstände, wieder einmal finster und mit Argusaugen über der randlosen Brille skeptisch beäugt vom Gastwirt in blauer Halbschürze. Dieser bewachte den Bürgersteig vor seiner Bierpinte so scharf, wie wohl einst Zerberus, der dreiköpfige Höllenhund, den sagenhaften Hades. Unbarmherzig konsequent und mit erhöhter Dosis Adrenalin im Blut verscheuchte er im besonderen Radfahrer und ahnungslose Nichtkunden vom Trottoir, die den weißen Plastikstühlen zu nahe kamen.
Auf der überdachten, langgezogenen Terrasse der Privatbrauerei unterhalb der Zitadelle schwelgten schon plappernde Gäste im preiswerten 5,90 € – Frühstück&Getränke-Büfett.
Die parallel dazu aufsteigende Treppe bot stets ein zweifelhaftes Sortiment unwiderstehlicher Duftmarken für sensible Spürnasen, deswegen musste Mona ihren schnuppernden Gasthund auch stets mit sanfter Gewalt über die steinerne Hürde lotsen. Oben angekommen stürzte sich Troll – alarmstuferotmäßig – ins angenehm nahe Gestrüpp. Mona ließ sich auf den großen, leicht bemoosten Stein sinken und zündete genussvoll ihre Zigarette an. Das Unterbewusstsein ziepte wieder einmal. In letzter Zeit meldete es sich oft mahnend, einem echt ungesunden (Warnung und grässliche Ekelbilder auf der Packung!) und außerdem teuren Luxuslaster zu frönen – aufgrund Herrn Schäubles hohem Steuerbedarf. Sie hatte sich eine lederne Hülle besorgt um die unappetitlichen Fotos zu umgehen. Himmlische Ruhe herrschte über dem schönen Platz, die Sonne lachte noch verhalten und außer Rascheln und fröhlichem Vogelgezwitscher, war nichts zu vernehmen. Monas wilde Spekulationen, die »Meenzer« oder »Määnzer« hätten in grauer Vorzeit mal einen obskuren Pakt mit dem zuständigen Wettergott besiegelt, wurden aktuell wieder bekräftigt. Nahezu zu jeder Open-Air-Festivität, ob Rosenmontagszug, Rheinland-Pfalz-Tag oder dem Gutenberg-Marathon breitete sich stabiles Traumwetter aus über Mainz, selbst wenn in Wiesbaden gerade Bindfäden oder cats-and-dogs vom Himmel regneten. Nach Trolls Rückkehr an die ungeliebte Leine überquerten sie die Straße und wählten jetzt die Alternative zum Absteigen, die sich optisch im absoluten Kontrast zum unweiten Villenambiente nach unten schlängelte. Der Weg führte quer durch den gepflasterten Innenhof, der fast kreisförmig angeordneten, scheinbar auf dem Reißbrett entworfenen Häuserquadrate, die nur differenzierbar waren durch die alphabetische Nummerierung oder die üppigen, sich gegenseitig überbietenden Balkonbepflanzungen, und mündete in einer steilen Treppe zur Altstadttangente.
Auf dieser wirbelte ihnen jetzt Diva hechelnd entgegen, mit hängender Zunge und in eine kleine Staubwolke gehüllt.
»Diva« war die inzwischen mehr graubraune als braunschwarze Rauhaardackelin von Ilse Gerlach. Beide relativ klein, aber sehr lebendig.
»Meine Tragetaschenhündin«, pflegte Ilse immer zu sagen, weil sie Diva bisher überall problemlos mitnehmen konnte. Manchmal sogar im überdimensionalen Weidenkorb, in dem die jung gebliebene Rentnerin gewöhnlich Berge von Gemüse vom Wochenmarkt nach Hause transportierte. Die Leute glaubten zwar in der klein geratenen, quirligen Dackeldame stets einen süßen, zu groß geratenen Welpen zu erkennen, aber seit die Hälfte von Divas struppigem Fell die Farbe verloren hatte und falls jemand nach deren Alter fragte, antwortete Ilse mit leichtem Augenzwinkern, »Wie der Herr, so’s Gescherr!« Dabei deutete sie auf ihre eigene, graumelierte, dichte Haarpracht, die sie immer geschickt mittels Hornkämmchen zu einer Art kunstvoller Hochsteckfrisur arrangierte.
Ilse Gerlach (Monas mütterliche Freundin)
Ilse lebte seit vielen Jahren als bekennende Vegetarierin, resultierend aus der festen Überzeugung, dass es gesünder sei, für Körper und Geist und aus großer Leidenschaft:
»… für alles, was Augen hat!« Früher schon selten Fleisch verzehrt, erfolgte die Initialzündung für den endgültigen Verzicht umgehend nach ihrem Einzug in der Altstadt. Damals, als die nichts ahnende Großstädterin Ilse erschreckt die Anlieferung einer Ladung aufgeschlitzter, mittig auseinandergeklappter, ganzer Schweine beobachtete, die im Morgengrauen mittels einer quietschenden Winde aus einem Transporter nach unten gelassen, in benachbarter Metzgerei verschwanden.
Das zwangsläufig folgende Mark&Bein-durchdringende Kreischen einer Kreissäge im Hinterhof, welches vom Zerstückeln der armen Säue zeugte, vergällte Ilse langfristig den Appetit auf den geliebten Frühstücksspeck, da sich die gruselige Vorstellung regelmäßig und unausweichlich wiederholte. Lange Zeit verlegte die Neubürgerin ihr Frühstück ins Wohnzimmer, um den nervtötenden Geräuschen der unteren Nachbargefilde zu entgehen. Sie schloss das Küchenfenster wegen des aufsteigenden, weißen Dampfes, der ihre Fensterscheiben beschlug, und vermied zukünftig den Blick auf die sehr frühe Leere der Fußgängerzone, weil das Quietschen des Seilzugs sie stets an das Quieken lebendiger Schweine erinnerte.
Zum Glück war die Ausbeinerwerkstatt vor einigen Jahren deutlich besser isoliert worden, sodass Ilse sich von der schweinischen Verarbeitung nicht mehr belästigt fühlte. Auch die sehr frühen Zeiten für die wöchentliche Anlieferung und den Abtransport der abgenagten Knochen samt Müllbox waren ihr schleunigst so hinlänglich bekannt, dass sie diese Aktionen bewusst ignorieren konnte. Ilse bewohnte seit fast dreißig Jahren ihre kleine, aber sehr charmante Wohnung mit schiefen Wänden im zweiten Stock eines vierhundertjährigen Hauses mit überputztem Fachwerk in der Augustinerstraße. Anfangs noch mit Sohn Henrik, der inzwischen erwachsen war, und im Ausland lebte. Auch Mona hatte auf Anhieb ihre Studentenbude hier gefunden, allerdings in einem jüngeren Wohnhaus, auf der sogenannten Beletage im ersten Stock und zweihundert Meter weiter Richtung Dom. Die Bischofsstadt, insbesondere die verwinkelte Altstadt, war inzwischen zu Ilses Heimat aufgestiegen, wo sie sich sehr wohl fühlte. Trotz ihrer mittelgroßen Adaptionsprobleme an die »Schunkelmentalität« der Urmainzer – treffend ausgedrückt im Fastnachtsmotto: »Mainz, wie es singt und lacht!«, oder in der Realität der Altstadt manchmal eher… stank und krachte!
Anfangs unvorstellbar, als es Ilse samt Nachwuchs aus dem hohen Norden ins Rhein-Main-Gebiet verschlagen hatte und festkleben ließ. Sie kannte zahlreiche Geschichten aus der langen Zeit,
»…über das schwarz-weiße und manchmal grellbunte Treiben in der Altstadt, als sich noch metallene Straßenbahnschienen wie große Adern durch die inzwischen gepflasterte Fußgängerzone zogen und heiße Öfen von Motorrädern oder röhrende Auspuffrohre von lautstarken Autos ihre stinkenden Abgase – fast blau – in den engen Häuserschluchten stehen ließen, ehe sie zum Himmel entweichen konnten.« Aus dieser prallen, imaginären Schatzkiste bewegten Altstadtlebens kramte