Um halb drei Uhr Nachts wachte er mit höllischen Kopfschmerzen in seinem eigenen Erbrochenem auf. Kaum fähig sich auf den Beinen zu halten, wechselte er die Kleidung und musste sich erneut übergeben.
XI
Im Bewusstsein nun gewiss einen der schlimmsten Tage seines Lebens hinter sich zu haben, stolperte Orthos am nächsten Morgen komplett verkatert, nach Alkohol stinkend in den kleinen Getränkemarkt von Delphi und deckte sich mit drei Kästen Bier und einer Stange Zigaretten ein. Was ihn am meisten wurmte, war die Tatsache, dass er sich immer noch keinen Reim darauf machen konnte, was mit seinen Rauschutensilien geschehen war. Ein gewöhnlicher Dieb hätte doch mit Sicherheit andere Dinge mitgenommen! Und so fiel sein Verdacht immer noch auf seine Schwester und Minos.
Heute aß Orthos zusammen mit ihnen zu Mittag. Die Atmosphäre am Esstisch war bis zum Äußersten gespannt und keiner wagte als erster einen Ton von sich zu geben. Der schon wieder sehr beschwipste Orthos hatte sich bereits mehrfach an seinem neuen Biervorrat vergriffen und wartete nur auf eine Gelegenheit seine aufgestaute Wut abzubauen. Galateia setzte ihm zum Nachtisch einen „extra für ihn gebackenen“ Schokokuchen vor, doch ihre gute Absicht wurde als Bestätigung des erwähnten Verdachts aufgefasst.
„SOLL DAS DIE ENTSCHULDIGUNG DAFÜR SEIN, DASS IHR MIR MEIN ZEUG WEGNEHMT?“, brüllte er mit vollem Mund in die Stille hinein und besprühte dabei das Gesicht seiner Schwester mit ein paar Schokostückchen.
Und schon war der Streit in vollem Gange. Alle sprangen von ihren Stühlen auf und Minos zog seine Frau schützend hinter sich. Nachdem man sich ein paar Minuten aufs übelste beschimpfte, Minos seinem Schwager versicherte er würde ihn, Verwandter hin oder her, beim nächsten Aussetzer vor die Tür werfen und Galateia daraufhin in hemmungsloses Schluchzen ausbrach, schmiss Orthos den Rest des Kuchens an die Wand, spuckte auf den Fußboden und schlug die Verbindungstür mit solcher Gewalt zu, dass das kleine Fenster darin hinaussprang und am Boden zerschellte. Verwirrt ging er im Hof auf und ab und wartete trinkend auf etwas, von dem er nicht wusste was es sein sollte. Heute war ihm nicht nach Spazierengehen zumute.
Schweigend und mit bösen Blicken fuhren kurze Zeit später Galateia und Minos auf dem Weg zum Feld mit ihrem Traktor an ihm vorbei. Brauchte seine Familie nur einen Vorwand um ihn endlich hinauswerfen zu können? Nahmen sie ihm sein Bier und die Zigaretten weg um ihn zu provozieren? Erneut mit zwei Flaschen ausgerüstet, ließ er sich im Garten auf der anderen Seite des Hauses nieder und versuchte seine verwirrten Gedanken zu ordnen.
Als Orthos eine knappe Stunde später wieder Wohnung betrat, entfuhr ihm ein Schrei.
Wieder war alles wie vom Erdboden verschluckt: Die Bierkästen und die ganze Stange Zigaretten. Ihm schwindelte. Was geschah hier? Er hatte doch den Alkohol gerade eben noch neben dem Kühlschrank und die Zigaretten auf dem Küchentisch mit eigenen Augen gesehen. Aber Galateia und Minos waren weg und wer sollte es sonst gewesen sein? War einer der beiden zurück gefahren nur um ihn zu beklauen? Nein, das konnte – selbst er – sich nicht vorstellen. Orthos spürte Angst in sich aufsteigen.
Es scheint mir eine Unmöglichkeit die Gefühle und Gedanken adäquat wiederzugeben, die in diesen Moment um Orthos kreisten. Jedenfalls verlor er spätestens ab dem Zeitpunkt komplett die Kontrolle über sich, als er bemerkte, dass sein Fernseher nicht mehr funktionierte. Wild schlug er auf dem armen Gerät herum bis es schließlich vom Regal fiel.
Anschließend ging er, inzwischen vollständig betrunken, erneut zum Getränkemarkt und gab 90 seiner 130 Drachmen für die nächste Fuhre Alkohol und Rauchwaren aus.
Zu Hause schloss er sich völlig paranoid in der Wohnung ein. Die Einkäufe lagerte er in einem schmalen Durchgang zwischen seinem eigenen Keller und dem der Scheune, der von beiden Seiten gut geschützt war. Diesen schmalen Schacht, der circa einen Meter hoch und 70 cm breit war, hatte er oft als Kind benutzt um unbemerkt von zu Hause zu entkommen. Orthos war sich sicher, dass er der einzige war, der diesen Gang kannte. Sein Großvater Kerberos hatte ihn ihm einst im Flüsterton gezeigt.
Wehmütig dachte Orthos an Kerberos. Was war er nicht für ein Mann gewesen? Von kräftiger Statur, stolz und herrisch. Jeder respektierte ihn, ja hatte sogar Ehrfurcht vor ihm. Niemals hätte es jemand in der Familie gewagt sein Wort anzuzweifeln. Alle taten was immer er sagte; und was er sagte war stets das Richtige.
Den Rest des Tages bis zum Nachmittags lief er in der Küche auf und ab, spähte ständig aus dem Fenster und erschrak jedes Mal, wenn der Hund im Hof einen Laut von sich gab. Am Abend hielt er es schließlich nicht mehr aus. Das Haus schien ihn wahnsinnig zu machen und er ging in Oinos Bar, natürlich erst nachdem er sich doppelt und dreifach versichert hatte, dass auch alle Türen abgeschlossen waren. Er ließ sogar seinen eigenen Schlüssel von innen im Schloss stecken und verstopfte die Verbindungstüre zur Wohnung seiner Schwester. Mit Mühe und Not quetschte er sich durch den schmalen Durchgang im Keller und kam verdreckt und schnaubend hinter der Scheune hervor.
Der dunkle Abend war unheimlich. Wäre Orthos nicht so betrunken gewesen, hätte er sich vermutlich überhaupt nicht vor die Türe gewagt. Überall um ihn herum schienen im Schatten versteckte Dämonen zu lauern die sich scheinbar darauf verschworen hatten ihm sein Leben schwer zu machen. Er spürte grausame, kalt berechnende Augen auf sich, die nur darauf warteten, dass er stehen blieb während die langen, noch fast kahlen Fangarme der Bäume die sich im Mondlicht emporhoben, ihn jeden Moment packen und mit sich reißen würden.
Bei Oinos lachte man ihn aus als er verwirrt, dreckig, stinkend und betrunken an den Tresen torkelte. In einer halben Stunde verspielte er seine letzten 40 Drachmen und johlte danach durch die Bar er müsse unbedingt nach Hause gefahren werden, sonst würden ihn die Bäume schnappen und zerreißen.
„Habt ihr nich ihre Fangarme gesehen?? Nich gesehen? Oh, ihr armen Teufel!!“
Oinos musste schließlich ein Taxi rufen und vorerst selbst bezahlen, da sich keiner der anderen Gäste als Fahrer zur Verfügung stellte. Natürlich fanden auch diese paar Drachmen den Weg in sein kleines, schwarzes, penibel geführtes Buch.
Zu Hause angekommen, zogen Minos und Galateia den schweren Orthos aus dem Taxi.
„Ham die Fangarme euch noch nich gekriegt ihr glücklichen? … Galateia hol mir ein Bier; hol mir sofort n Bier! Dann können sie mich nich kriegen …“
„Gar nichts hol ich dir. Du musst dich jetzt ausschlafen und ausnüchtern. Und morgen früh musst du dich als erstes waschen. Wie du stinkst …“
„Schlafen? Ich kann nich schlafen, Galate … die Fangarme … und HOL MIR ENDLICH …!“
Orthos schaffte es nicht mehr seinen Befehl auszusprechen. Er hustete und erbrach über sich selbst, seine Schwester und den Fußboden. Galateia ließ ihren Bruder vor Schreck und Ekel los. Minos allein schaffte es jedoch nicht ihn zu halten und der schwere 120 Kilo-Mann schlug bewusstlos auf dem Boden auf.
Zwanzig Minuten später hatten es die beiden schließlich geschafft Orthos zumindest die voll gebrochene grüne Latzhose auszuziehen und ihn in sein Bett zu hieven. Galateia konnte in dieser Nacht kein Auge zu machen. Ständig lief sie hinüber in die Wohnung ihres großen Bruders und sah nach ob er noch atmete und nicht schon an seinem Erbrochenem erstickt war, wie es so oft bei Menschen seines Schlags passierte.
XII
Doch am nächsten Morgen um sieben Uhr war Orthos noch am Leben. Galateia brachte ihm ein kräftiges Frühstück, bestehend aus Eiern, Toast, Obst, Kaffee und Orangensaft und war überrascht ihn wach vorzufinden. Heute würde sie nicht mit aufs Feld gehen. Zum einen weil sie immer noch Angst hatte ihrem Bruder könne etwas zustoßen und sie zum anderen mit ihm zum Arzt wollte. Waren sein Körper und Geist doch in einem mehr als besorgniserregenden Zustand.
Nur einige einzelne Laute von sich gebend nahm er leer geradeaus starrend seine Mahlzeit ein. Allein an seiner Essgeschwindigkeit, die sonst um das vielfache höher war, spürte