Noch geringfügiger sind die Funde lateinischer literarischer Papyri. „Sie beschränken sich auf bescheidene Fragmente aus bereits bekannten Klassikern, die in der Schule gelesen wurden (Cicero, Livius, Sallust. Vergil).“198 Festzuhalten ist, dass auch die Merowinger, Araber, das Frankenreich und seine Nachfolgestaaten Papyri für ihre Urkunden verwandten. Neben dem Papyrus und dem Papier diente im Mittelalter das Pergament als Hauptbeschreibstoff für alle möglichen Quellen. Texte der antiken Literatur liegen uns bereits vereinzelt seit dem 2. nachchristlichen Jahrhundert vor. „Mehr oder weniger vollständige Pergamentkodizes begegnen uns zum erstenmal im 4. Jh. mit den beiden berühmten griechischen Bibelhandschriften, dem Sinaiticus und Vaticanus“. Vom 5. und 6. Jahrhundert an „besitzen wir bereits eine größere Zahl christlicher und profaner Pergamenthandschriften in Ost und West, d.h. in griechischer und lateinischer Sprache“199, so z.B. unter anderem auch Codices über Terenz, Vergil und Livius. An die Stelle der Rolle trat schon in der römischen Kaiserzeit zunehmend der Codex, der ja im Grunde der Vorläufer des modernen Buches war. Seit dem 2. Jahrhundert u. Z. wurden heidnische Schriftsteller in der Regel auf Pergamentrollen, christliche Autoren auf Papyruscodices festgehalten.
Bei den Handschriften sollten wir uns aber stets vor Augen halten, dass wir wirklich tragbare Ergebnisse über die Echtheit von Papyrus- und Pergamenthandschriften erst dann bekommen, wenn man deren Alter genauer, als bisher möglich, ermitteln kann. Die Radiokarbonmethode und Dendrochronologie sind für solche erdgeschichtlich relativ kurze Perioden, wie Oleinikov und andere dargelegt haben, nur in begrenztem Maße geeignet.200 Man hat sie darum auch nie dafür herangezogen.
Ein auffallend großer Anteil von Abschriften lateinischer Autoren, welche aus dem Mittelalter erhalten bzw. im Mittelalter entstanden sind, wurde, wie oben bereits angedeutet, durch von der römischen Kurie beauftragte Humanisten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit in deutschen Klöstern entdeckt. Erstaunlicherweise erstreckte sich diese bibliophile Schatzsuche vor allem auf deutschsprachiges Gebiet, „weil auf deutschem Boden noch Schätze zu finden waren, die keine italienische Bibliothek besaß.“201 Italienische Gelehrte wühlten also im Auftrag der Kurie und anderer kirchlicher Kulturträger bevorzugt in deutschen bzw. deutschsprachigen Klosterbibliotheken herum, um antike Autoren zu entdecken, welche überwiegend ihre Werke im antiken Italien verfasst hatten:
„Im Gefolge des Pisaner Papstes Johannes XXIII. zogen zahlreiche Humanisten als Sekretäre oder Schreiber der Kurie nach dem Norden, unter ihnen Bruni und Poggio.“202
Letzterer, seit 1423 apostolischer Sekretär der römischen Kurie, führte allein vier intensive Bibliotheksreisen nach Frankreich und vor allem nach Deutschland durch und wurde „im Gefängnis der Barbaren“, z.T. durch widerrechtliche Aneignung, auch fündig.203 Im deutschen Sprachraum besuchte er vor allem die Klöster St. Gallen mit Nachbarklöstern, die Klöster in Fulda, Hersfeld und Köln. Rossi meint, der Humanist “erweiterte mit seinen wunderbaren Entdeckungen außerordentlich den Horizont der klassischen Studien“.204 Die gefundenen Codices wurden regelmäßig sofort kopiert, vielleicht auch deswegen, weil sich viele gefundene Handschriften (angeblich) in einem „erbärmlichen äußeren Zustand“205 befunden haben sollen. Nicht auszuschließen ist aber, dass diese Schnellkopien auch deswegen durchgeführt worden, weil man daran interessiert war, die mehr oder weniger gut erhaltenen Handschriften so schnell als möglich zu vernichten, wohl um eine Nachprüfbarkeit der Inhalte der gefundenen Handschriften zu verhindern.206 Auf den leichtfertigen Umgang mit Druckvorlagen in den Kulturzentren der Renaissance, vor allem in Rom, weisen Davidson und Luhmann207 bereits im Jahre 1998 hin. Antonio Rossi beschönigt diese seltsame Kopiermethode von Poggio mit folgenden Worten:
“Somit vollbrachte er bisweilen wahre Rettungstaten, da von einigen jener Werke (Handschriften) jedes Manuskript vor seiner Kopie verloren ging.”208 Das Verlieren eines uralten Manuskriptes wäre heute keine Rettungstat.
Wie zweifelhaft diese Entdeckungen in deutschen Klöstern waren, zeigt ein Bericht aus dem Werk des Byzantinisten Herbert Hunger über die Entdeckung der kleinen Schriften von Tacitus:
„Auch nach seiner Rückkehr leitete Poggio209 von Rom aus die Suche nach neuen Kodizes. In seinen Diensten stand ein ungenannter Mönch aus Hersfeld, der 1425 mit einer Liste von Desiderata aus Rom heimkehrte. Durch ihn erfuhr Poggio u.a. von der Existenz dreier unbekannter Schriften des Tacitus im Kloster Hersfeld, der Germania, dem Agricola und dem Dialogus über den Verfall der Rhetorik. Erst kurz vor seinem Tode glückte es, der mit allen Mitteln verfolgten Kodizes habhaft zu werden. Einer der Bücheragenten Nikolaus V., Alberto Enoch d’ Ascoli (gest. 1457), scheint das Manuskript 1455 von einer Bibliotheksreise, die ihn bis nach Skandinavien führte, nach Italien gebracht zu haben. Als erster verwertete Enea Silvio Piccolomini Nachrichten aus der Germania und verglich das moderne mit dem alten Deutschland zugunsten der (damaligen) Gegenwart und der humanistischen Bildung. Dadurch wurden die deutschen Humanisten auf den Schatz aufmerksam, der ihnen entgangen war, und nachdem Leo X. (Papst von 1475-1521) Tacitus hatte drucken lassen, wurde die Germania zur bevorzugten Quelle über die deutsche Vergangenheit.“210
Neben Poggio und seinen Helfern spielte auch der rombegeisterte Dichter Petrarca, der von 1304 bis 1374 gelebt haben soll, eine bis heute wenig durchschaute Rolle. Chlodowski bezeichnet ihn emphatisch als den Mann, welcher der erste gewesen sein soll, der „could understand and bring into light the ancient elegance of the style that had been forlorn and forgotten before“211. Bei seiner Ankunft in Rom findet der Dichter nicht die großen Gebäude und Monumente der römischen Antike, die er sich in seinen Träumen erhofft hatte. Die folgenden Zeilen von Petrarca, aus denen seine ganze Enttäuschung spricht, lassen den Zustand von Rom in der Spätantike und Frührenaissance in einem äußerst realistischen Licht erscheinen. Dieser Bericht von Petrarca über die ‘Größe Roms’ ist so bezeichnend, dass ich ihn in voller Länge in deutscher Übersetzung wiedergeben will:
„Wo sind die Thermen von Diokletian und Caracalla? Wo ist das Timbrium von Marius, das Septizonium und die Thermen von Severus? Wo ist das Forum von Augustus und der Tempel des Rachegottes Mars? Wo sind die heiligen Plätze von Jupiter, dem Donnerträger, auf dem Capitol und von Apollo auf dem Palatin? Wo ist der Porticus von Apollo und die Basilica von Caius und Lucius, wo ist der Porticus von Libya und das Theater des Marcellus? Wo ist der Tempel von Hercules und den Musen, erbaut von Marius Philippus, und der Tempel der Diana, erbaut von Lucius Cornifacius? Wo ist der Tempel der artes liberales von Avinius Pollio, wo ist das Theater von Balbus, das Amphitheater von Statilius Taurus? Wo sind die zahlreichen Bauten, die Agrippa errichtete, von welchen nur das Pantheon übrig bleibt? Wo sind die prächtigen Paläste der Kaiser? Man findet alles in den Büchern; aber wenn man versucht sie in der Stadt zu finden, so zeigt sich, dass sie entweder verschwunden sind oder dass nur magere Spuren übrig geblieben sind.“212
Bei diesem ausführlichen Petrarca-Bericht über die vermeintlichen bzw. realen Kulturstätten des antiken Rom fällt auf, dass das heute wohl bekannteste und neben dem antiken Forum am meisten besuchte Gebäude, das Colloseum, nicht erwähnt wird. Doch störte das Petrarca keineswegs bei seinen weiteren Aktivitäten bei der Suche nach den Relikten des alten Rom.213
Nachdem Petrarca einige Tränen vergossen hatte, machte er sich gleich an die Arbeit, suchte nach Statuen, sammelte römische Münzen und versuchte die Topographie von Rom zu rekonstruieren. Sein größter Eifer galt aber der Suche nach Werken der ‘antiken’ Autoren. Dabei war er nicht besonders kritisch, was das Alter derselben betraf. Schließlich konnte er es sich leisten, eine Werkstatt mit Schreibern und Sekretärin zu gründen. Immer wieder bekniete er Freunde und Bekannte, dass sie für ihn alte