Am 23. Februar 1915 war im Bereich der «Brotkartengemeinschaft für Groß-Berlin» die tägliche Ration auf 225 Gramm Mehl festgelegt worden, und die Ernährungslage wurde immer schlechter. Schon wurde die Einrichtung von Großküchen erwogen. Kein Wunder, dass unter diesen Umständen erst das Essen kam und dann die Moral - und ein Mann wie der Handgranatenmörder überall Unterschlupf finden konnte. Wer im Verdacht stand, einen Schmarotzer wie Erich Röddelin aus dem Verkehr gezogen zu haben, konnte mit der klammheimlichen Freude vieler rechnen.
So waren bereits über sechs Wochen vergangen, ohne dass die Mordermittler in der Sache Röddelin irgendein Ergebnis vorweisen konnten. Nach dem Anarchisten Ernst Bergmann, dem mutmaßlichen Täter, war vergeblich gefahndet worden. Sein Vorstrafenregister war beachtlich. Zumeist hatte er wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt gesessen, aber auch, weil er in die Fabriken und Villen von Unternehmern eingedrungen war und dort einigen Schaden angerichtet hatte. Einen Fabrikanten hatte er so verprügelt, dass der mit einer Gehirnerschütterung und mehreren Rippenbrüchen ins Krankenhaus gekommen war. Der Richter hatte Bergmann eine Neigung zum Jähzorn und zum blinden Hass unterstellt.
Zuletzt war Bergmann in der Holteistraße polizeilich gemeldet gewesen, also ganz in der Nähe des Röddelinschen Kolonialwarenladens, dort aber am 29. Februar ausgezogen, ohne sich anderswo wieder anzumelden. Seiner Wirtin hatte Bergmann gesagt, er würde zu einem Freund in eine Laube ziehen. Da es unmöglich war, jede der zig Berliner Laubenkolonien zu durchkämmen, waren sie in der Mordkommission am Alexanderplatz gezwungen, abzuwarten und zu hoffen, dass der Mann nicht ein zweites Mal zuschlug. Blieb nur der zynische Trost, wie ihn Galgenberg formulierte: «Wer in Verdun einen anderen mit ’ner Handgranate ins Jenseits geschickt hat, der wird ja auch nie zur Verantwortung gezogen werden.»
«Und kriegt sogar noch ’n Orden umgehängt», fügte Kappe hinzu.
Galgenberg hatte das Berliner Tageblatt vor sich ausgebreitet und referierte, was sich an den verschiedenen Fronten getan hatte.
« Tag und Nacht Artilleriekämpfe um Verdun. Französische Gräben links der Maas genommen. Ein englisches U-Boot versenkt. Ein russisches Linienschiff mit Bomben belegt. Nichts Neues an den k. u. k.-Fronten. »
In diesem Moment erschien Waldemar von Canow in der Tür, er hatte die letzten Worte mitbekommen.
«Das ist ja wie bei Ihnen, meine Herren: Nichts Neues an der Front, was den Handgranatenmörder betrifft!», rief er.
«Manchmal ist eben jede Kunst vergeblich», sagte Kappe. «Bei Röddelin war es die ärztliche, bei uns ist es die kriminologische. Bergmann ist und bleibt abgetaucht. In Wendisch Rietz wäre er ja aufzustöbern, nicht aber in Berlin. Zumal wir immer weniger Männer haben.»
«Das weiß ich selber!», fauchte von Canow ihn an. «Aber ein guter Kriminaler hat eben überall seine Informanten.»
«Die habe ich auch», sagte Galgenberg. «Aber von denen ist noch nichts gekommen. Man müsste mal eine kleine Belohnung aussetzen: zwei Brote und ein Pfund Butter. Dafür tut doch heute jeder alles.»
«Galgenberg, unterlassen Sie Bemerkungen wie diese!» Galgenberg nickte und stand auf, um sich zur Toilette zu begeben. «Jut, dann muss ick ebent wat anderet unter mir lassen.» Galgenberg konnte sich einen solchen Ton erlauben, denn sein Wissen um die Dinge, erworben in langen Dienstjahren, machte ihn unangreifbar. Außerdem war er kein Sozi, sondern hing deutschnationalen und monarchistischen Werten an und hatte deshalb in der Polizeiführung genügend Leute, die ihn deckten. Man wusste auch, dass von Canow nicht gerade der Hellste war und ohne Pragmatiker wie Galgenberg gescheitert wäre.
Wie auch immer, Galgenberg zog, kaum war er von der Toilette zurück, das gemeinsame Telefon zu sich herüber und begann alle anzurufen, die er sozusagen als private V-Leute auf seiner Liste stehen hatte. Meist waren es kleine Ganoven und zwielichtige Geschäftsmänner, aber auch Frauen aus dem horizontalen Gewerbe, denen er irgendwann einmal geholfen hatte. Meist dadurch, dass er beide Augen zugedrückt hatte. So etwas zahlte sich meistens aus. So auch im Fall Ernst Bergmann. Jemand flüsterte Galgenberg ins Ohr, dass er den mutmaßlichen Handgranatenmörder in einem Lokal in der Nostizstraße 16 gesehen habe.
Sie beschafften sich einen weiteren Vorrat an Dienstfahrscheinen und machten sich auf den Weg nach Kreuzberg.
«Ich werde mal bei von Canow einen Antrag stellen, dass sie für uns einen Straßenbahnwagen als rollendes Büro anmieten», sagte Kappe. «Bei der Zeit, die wir unterwegs sind.»
Galgenberg war begeistert von dieser Idee. «Da stehe ick dann aba selba an da Kurbel. Det war schon imma mein Traum.»
«Meiner aber auch», bekannte Kappe.
Diesmal brauchten sie nicht lange nach der optimalen Verbindung zu suchen, denn mit der Linie 3, dem Großen Ring, kamen sie ohne Mühe vom Alexanderplatz zur Gneisenaustraße. Die Kreuzung Nostizstraße war schnell erreicht.
Galgenberg zeigte nach Süden. «Da hinten ham se unsam Handgranatenmörder schon ’n Denkmal gesetzt.»
«Wieso das?» Auch nach sechs Jahren gemeinsamen Dienstes wollte es Kappe nicht gelingen, sofort zu verstehen, was Galgenberg meinte.
«Na, weil da die Bergmannstraße liegt!»
«Ah ja.»
Kappe hätte das eigentlich wissen müssen, denn ganz in der Nähe hatte er bei den Grenadieren gedient. Dafür wusste er, dass die Nostizstraße eine Hochburg der Roten war, der SPD, aber vor allem derer, die links von ihr standen. Deren Kreise zu stören rief bei ihm ein gehöriges Unbehagen hervor, doch Mörder war Mörder, und er hätte seinen eigenen Bruder, ohne zu zögern, der Justiz übergeben, wenn der einen anderen Menschen mit einer Handgranate getötet hätte.
«Hat es denn Sinn», fragte er Galgenberg, «wenn wir beide ins Lokal gehen und nach Bergmann fragen? Uns sieht doch jeder an, wer wir sind …»
Der Kollege lachte. «Nach Bergmann muss man nicht fragen, den erkennt man auf den ersten Blick: Er sieht wie ein Neandertaler aus.»
So gingen sie hinein, bestellten sich je ein Bier, konnten aber Bergmann nicht entdecken. Von allen Gästen erkannt und durchschaut wurden sie auch nicht, nur der Zapfer, der ihnen ihr Bier an den Tisch brachte, wusste, wer Kappe war. Man kannte sich vom Fußball her.
«Na, Hermann, tust de wat für deine Form, nächsten Sonntag gegen 95, den 1. FC Neukölln?»
«Irrtum, auf dem Exer gegen Alemannia 90. Aber meinste denn, wir kriegen elf Mann zusammen?»
«Ick bringe meine beeden Söhne mit.»
«Die sind doch erst vierzehn», wandte Kappe ein.
«Meinste denn, die in Verdun geben Schulle, Spinne und Murkel det Wochenende frei?»
«Nee, aber …» Kappe sah sich um, ob auch niemand mithörte.
«Und wie ist es mit Ernst Bergmann, kann der nicht …?»
«Nee, der kann nich. Aber frag mal bei dem Liebknecht nach, in dem sein Büro. Oder bei Stiller.»
Sie gaben dem Mann reichlich Trinkgeld, obwohl nicht sicher war, ob von Canow das als Spesen akzeptieren würde, und gingen zum Postamt am Halleschen Tor, um im Telefonbuch nachzusehen, wo das Anwaltsbüro Karl Liebknechts zu finden war.
«Chausseestraße 121.»
Dort, das wusste Kappe von seinem Freund Theodor Trampe, hatte die «Gruppe Internationale» am 1. Januar 1916 ihre erste Reichskonferenz abgehalten. Den Namen hatte sie sich gegeben, weil Rosa Luxemburg ihren alles entscheidenden Satz «Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt» in der Zeitschrift Die Internationale veröffentlicht hatte.
«Chausseestraße»,