Bisweilen ist eine Krankheit womöglich ohnehin nichts anderes als ein verzweifelter Schrei des unterdrückten Willens, der endlich Gehör finden will. Aus der Not heraus gelingt es manchem, sich und sein Leben zu hinterfragen und dann neu auszurichten. Eine neue Lebensphase wird geboren. Oder wie Siegmund Freud (1856-1939) sagte: „Leiden macht Sinn.“
Doch es muss nicht immer zur Katastrophe kommen. Auch ein imaginierter Rückblick auf das eigene Leben, also die Vorstellung, vom Ende des Lebens aus einen Blick zurück zu werfen, kann hilfreich sein und die Sinne für das Wesentliche schärfen. Eine „Be-Sinnung“ kann dann bereits prophylaktisch vollzogen werden.
Die Einbettung in einen größeren Zusammenhang muss dabei gar nicht künstlich vollzogen, sondern in ihrer stets vorhandenen Existenz nur erkannt werden.
Jeder Mensch wirkt durch sein Tun schließlich unmittelbar auf seine Umgebung ein. So wie er selbst ein Produkt der Handlungen seiner Vorfahren ist, so bedingt er ein Stück weit die Handlungspotentiale seiner Nachfahren. In besonderem Maße gilt das für die eigenen Kinder, die natürlich direkt von den Eltern geprägt werden. Das Bewusstsein dafür, als einzelner Mensch das Mitglied einer über Jahrtausende zurückreichenden Familienbande zu sein, kann jedes Gefühl von Isolation aufheben. Schließlich sind in jedem einzelnen Menschen Elemente reichhaltiger Lebenserfahrungen von zig Vorfahren angelegt. Diese leben und wirken auf subtile Weise in dem einzelnen Individuum fort. Zugleich kann aus dem intensiven Bewusstsein dieses Zusammenhangs ein sinnstiftendes Verantwortungsgefühl entwachsen, das darin besteht, eigene Werte zu dieser reichen Geschichte beizutragen und an direkte oder auch nicht-verwandte Nachkommen weiterzugeben. Um das wohlige Gefühl einer zwangsläufigen Eingebundenheit vollauf spüren zu können, empfahl der antike Weise Konfuzius daher, Ahnenforschung zu betreiben. Wer der eigenen Familiengeschichte bis weit in vergangene Jahrhunderte nachgeht und bestenfalls verschriftlicht, wird zunehmend ein Gefühl dafür entwickeln, dass er sich in einem dichten Gewebe des Zusammenhangs befindet.
Die verstärkte Ausrichtung des Lebens an dieser Tatsache kann also bereits eine selbstbestimmte Neu-Geburt darstellen. Eine Lebensform, die den großen Errungenschaften und bewährten Werten früherer Generationen bewusst begegnet und zum Anlass nimmt, selbst vorbildhaft für die nachfolgenden Generationen zu handeln, lässt den Einzelnen zum sinnvollen Teil eines großen Ganzen werden. Einzelne Facetten jedes Lebens überdauern. Ein Teil jedes Menschen lebt somit fort, solange es Menschen gibt.
Laut Seneca ist es daher dringend zu empfehlen, das Leben als Kunstwerk zu begreifen, das in seiner Pracht über den eigenen Tod hinaus fortbesteht. Es sei dies „die einzige Möglichkeit, die Grenzen [der] Sterblichkeit zu erweitern, ja, sogar in Unsterblichkeit zu verwandeln.“
Auch wenn das einzelne Individuum nicht unsterblich wird und schon bald nach dem Tod vergessen sein mag – zumindest einzelne Eigenheiten, Aussprüche, Handlungsweisen oder Gesinnungen werden oft unbewusst über Generationen tradiert, unreflektiert übernommen oder auch irgendwann als vorbildhaft oder verwerflich eingestuft.
Inwieweit eine einzelne Handlung sich in einen generativen Sinnzusammenhang einweben kann, verdeutlicht eines der beliebtesten Gedichte der deutschen Literaturgeschichte: Theodor Fontanes (1819-1898) Ballade vom Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Der großherzige und großzügige Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland verschenkt darin die Birnen einen Baumes in seinem Garten an vorbeikommende Kinder. Er stiftet damit viel Freude. Als er seinen Tod kommen spürt, bittet er „vorahnend schon und voll Misstraun [sic] gegen den eigenen Sohn“, eine Birne mit ihm ins Grab zu legen. Wie er es vorhersah, entwächst dem Grab einige Jahre nach seinem Tod ein neuer Birnbaum. Die Kinder des Havellandes können sich somit auch nach dem Tod des Herrn von Ribbeck an dessen Güte erfreuen. Abschließend heißt es: „Und so spendet Segen noch immer die Hand, des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.“
Herr von Ribbeck auf Ribbeck hat sich durch seine gutherzige Tat unsterblich gemacht. Noch aus seinem Grab heraus wirkt er weiter. Er spendet über den Tod hinaus Segen. Die anhaltende Beliebtheit des Gedichts verdankt sich zweifelsohne auch jener Metapher für das ur-menschliche Verlangen, generativ zu überdauern und sich und sein Leben somit in einem wohltuenden größeren Zusammenhang zu verorten.
Doch es ist nicht nur die literarische Figur des Herrn Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, die unsterblich zu sein scheint. Auch sein Verfasser lebt in der literarischen Figur auf ewig weiter. Selbst weniger einflussreiche Werke als Fontanes Meisterballade schaffen es oft, zumindest in kleinerem Kreise, zu überdauern. Ein Poet, also jemand der dem Wortsinn nach (vom Griechischen „poietes“, Hersteller, Brückenbauer) etwas baut oder zusammensetzt, fügt immer erlebte Erfahrung und tradiertes Wissen zu einem Werk für sich und seine Umwelt zusammen.
Wer also beispielsweise Literatur verfasst, aber auch Musik komponiert, Bilder malt oder Skulpturen meißelt, wird dies wahrscheinlich auch tun, um sich selbst auszudrücken und damit eine Brücke zu seinen Mitmenschen der Gegenwart und Zukunft zu bauen. Er übersteigert die eigenen Gefühle und bringt sie in transzendierter Form seinen Mitmenschen bereitwillig dar.
Das Bedürfnis des Weiterlebens, des Überdauerns in nachfolgenden Generationen, wird also nicht nur in der Geburt der eigenen Kinder oder der Geburt eines selbstentworfen, vorbildhaften Lebens ein Stück weit erfüllt, sondern auch in der Erzeugung von Werken, die dereinst tradiert werden. Es fällt auf, dass oft gerade künstlerisch und geistig aktive Menschen keine eigenen Kinder haben. Die Zahl der kinderlosen Geistesgrößen und Kreativmenschen erscheint tatsächlich fast endlos lang und reicht von Philosophen wie Roger Bacon, René Descartes, John Locke, David Hume, Immanuel Kant, Jean- Paul Sartre, Simone de Beauvoir über Komponisten wie Georg Friedrich Händel oder Ludwig van Beethoven und Musiker wie Maria Callas oder Louis Armstrong bis hin zu Wissenschaftlern wie Isaac Newton oder John Maynard Keynes.7 Ihre Geburten waren ausschließlich geistiger Natur.
In extremen Fällen kann die oft überaus mühsame, vielleicht auch schmerzhafte Geburt eines eigenen Werkes in der Wahrnehmung des Urhebers sogar die menschliche Geburt übertreffen. So schrieb der Naturphilosoph, Mathematiker und Astronom Johannes Kepler (1571-1630) anlässlich der Geburt eines seiner Kinder: „Gerade als ich mich mit der Quadratur meines Ovals beschäftigte, kam mir ein ungelegener Gast durch eine Geheimtür ins Haus, um mich zu stören.“ Und Albert Camus bezeichnet die eigenen Kinder in seinen Tagebüchern als seine „Nebenwerke“. Die Hauptwerke blieben seine Bücher.
Der französische Philosoph Denis Diderot (1713-1784) schrieb im 18. Jahrhundert: „Die Nachwelt ist dasselbe für den Philosophen, wie das Jenseits für einen Gläubigen.“ Im Verständnis Diderots will der Philosoph ebenso wie der Künstler bleibende Werke erschaffen. Wie Gläubige tradieren Philosophen und Künstler dabei ihr eigenes Ich. Während Eltern in ihren Kindern ein Stück weit überdauern und Gläubige darauf spekulieren, im Jenseits in Form einer göttlich-transzendenten Wandlung fortzubestehen, hoffen tugendhafte Menschen darauf, mit ihrem „Lebenskunstwerk“ im Sinne Senecas als Vorbilder fortzuleben. Künstler und Philosophen streben hingegen danach, in ihren erschaffenen Werken unsterblich zu werden.
In der technisch und wissenschaftlich hoch entwickelten Welt des aufgeklärten und industrialisierten Westens sind es immer öfter aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfindungen und Entdeckungen sowie technische Errungenschaften, die einen Moment der Transzendenz ganz im Sinne Diderots schaffen können. Einer der einflussreichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Albert Einstein (1879-1955), meinte denn auch, dass ihm seine wissenschaftlichen Studien einen tiefen Lebenssinn gaben. Sie verliehen ihm „innere Freiheit und Sicherheit“ und vermittelten einen „Gefühlszustand, der […] dem eines religiösen oder verliebten Menschen ähnlich ist“. Einstein empfand das Glück, das „geistige Generativität“ spendet. Er fühlte sich tief eingebunden in die Zusammenhänge der Welt.
Die sinnstiftende Wirkung „geistiger Generativität“ tritt aber nicht nur ein, wenn man selbst gestaltend tätig ist, sondern bisweilen auch dann, wenn man sich mit den überwältigenden Werken menschlicher Vorfahren auseinandersetzt. Man kann Sinn also auch durch den bewussten Einsatz seiner Sinne empfinden. Die Sinne schaffen dabei eine Verbindung zur Vergangenheit, die in einer Ballade Fontanes genauso zum