Ungefährlich ist allerdings auch ihr Modell nicht. Es wurde bereits thematisiert, dass der Sinn im sinnlosen Wirtschaften darin besteht, stetig mehr zu produzieren, um mehr konsumieren zu können. Der Mensch bleibt somit in einem künstlichen Rahmen aktiv und bekommt von außen klare Aufgaben und Strukturen vermittelt. Indem nun immer mehr Menschen sich immer ausgefalleneren Berufsmodellen unterordnen und dabei die überlebenswichtigen Ressourcen der Erde dazu benutzen, immer unnützere Dinge zu produzieren und zu vermarkten, um dann noch unnützere Dinge konsumieren zu können, werden, wie schon beschrieben, eben jene Ressourcen merklich weniger. Auch das pure Überleben könnte angesichts des aktuellen Wirtschaftsmodells und den damit einhergehenden Langzeitfolgen selbst in den globalen Zentren mittelfristig wieder zunehmend unsicher werden.
Alternativen zu dem gegenwärtigen Wirtschaftsmodell müssen und werden daher früher oder später gefunden werden. Einen ersten Schritt hin zu derartigen Alternativen stellt bereits die stärkere Bewusstwerdung der menschlichen psychologischen Konstitution mit ihrem Bedürfnis nach Sinn dar. Indem die einzelnen Motivationen für das überwiegend sinnlose Produzieren und Vermarkten von Überfluss erkannt und demaskiert werden, fällt es leichter, sich davon zu verabschieden und nach neuen Modellen zu suchen.
Neurobiologisch kann dieses Bedürfnis mit dem Glückshormon Oxytocin begründet werden.6 Das Oxytocin bedingt Glücksgefühle, die in einem vertrauensvollen Beisammensein mit anderen Menschen aufkommen. Nicht nur bei konkreten körperlichen Berührungen, sondern auch bei dem Gefühl, sich in einem vertrauten, wohlgesonnenen Umfeld zu befinden oder sich eben eingebettet in einen größeren Zusammenhang zu wissen, wird Oxytocin ausgeschüttet. Die wahrhafte und tief empfundene Verbindung mit der Umgebung bewirkt durch die körpereigene Oxytocinproduktion daher immer Wohlgefühle. Diese sind vielfältig und daher besonders intensiv. So wirkt Oxytocin auch beruhigend und angstmildernd. Der unbewusste Wunsch, die Wirkung des Hormons zu spüren, ist daher groß.
Aus evolutionärer Perspektive ist das Streben nach Zusammenhang und Eingebundenheit damit zu begründen, dass isolierte und ausgestoßene Individuen in einem Urzustand nicht lange überleben konnten. Sie konnten ohne die Einbindung in das vertraute Netzwerk ihrer unmittelbaren Umgebung auf lange Sicht weder genug Nahrung finden, noch sich vor Raubtieren schützen. An Fortpflanzung und die Weitergabe der eigenen Gene war in einem Zustand der Isolation sowieso nicht zu denken.
Vor diesem Hintergrund könnten selbst abstrakte Ideen, wie etwa ein gemeinsam gelebter Glaube, auch als Instrument des Überlebens betrachtet werden. Die verbindende Wirkung einer gemeinsamen Idee würde demnach die Zusammenfindung zu einer Gemeinschaft forciert haben. Der evolutionäre Überlebenskampf ließ sich in Gemeinschaft schließlich besser bestreiten.
Versuche, das menschliche Bedürfnis nach dem Eingebunden-Sein schlichtweg zu negieren, sind daher stets gescheitert. So wollten beispielsweise die Dadaisten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vergeblich den Unsinn als Waffe gegen zu tiefes Sinn-Streben in Stellung bringen. Ihr Versuch sorgte zwar für einiges Aufsehen in der Kunstszene, blieb gesellschaftlich aber weitgehend folgenlos. Auf gesellschaftlicher Ebene vielleicht etwas erfolgreicher waren die sogenannten Spaßguerilleros, die im Windschatten der 68er-Bewegung in Deutschland durchaus bleibenden Eindruck hinterließen und wahrscheinlich auch einen kleinen Anteil an einem Kulturwandel jener Zeit hatten.
Doch der Wunsch danach, in größere Strukturen eingebunden zu sein, ist wohl zu tief im Menschen verankert, als dass er sich einfach gänzlich abschaffen ließe. Kurzzeitige Spaß- Momente sind eben weniger erfüllend als das tiefe Glücksempfinden des sinnstiftenden Eingebunden-Seins.
Der Wunsch nach Eingebundenheit als Chance
Statt gegen ein tief sitzendes menschliches Bedürfnis anzukämpfen, empfiehlt es sich wohl eher, seine Vorzüge auszunutzen. Dem Wunsch des Eingebunden-Seins entwächst beispielsweise auch ein Phänomen, das die Psychologin und Sinnforscherin Tatjana Schnell in ihrem Werk „Psychologie des Lebenssinns“ sogar als besonders sinnstiftend bezeichnet. Schnell nennt dieses Phänomen „Generativität“. Damit ist gemeint, dass der Einzelne sich auch in einen über Generationen hinausgehenden Zusammenhang einordnen kann. Er begreift sich als Teil des Menschengeschlechts, für das es sich einzusetzen lohnt. Er stellt das Bindeglied zwischen vergangenen und künftigen Generationen dar. Der gegenwärtige Einsatz für andere kann dabei als Grundlage einer besseren Zukunft begriffen werden.
Die „Generativität“ fördert unter anderem auch den menschlichen Altruismus, die Bereitschaft sich selbst für andere aufzuopfern, bedingungslos zu helfen und den Mitmenschen zuliebe auf eigene Vorteile zu verzichten. Gerade aus dem Verzicht auf eigene Vorteile kann daher Freude erwachsen. Bei manchen droht dieser Sachverhalt freilich ins Extreme zu kippen. Sie empfinden am eigenen Elend und Leid große Freude. Die wirkmächtigste Metapher hierfür kann in der biblischen Figur des Jesus Christus gesehen werden, der alles Leid der Welt auf sich nahm, um künftige Generationen zu erlösen.
Am stärksten wird das Phänomen der „Generativität“ wohl bei der Geburt und der frühkindlichen Betreuung der eigenen Kinder erlebbar. Selbst die größten Egoisten werden im Angesicht ihres eigenen Nachwuchses in der Regel zu opferbereiten Menschen, die genau im Moment ihrer Opferbringung ein diffuses Glück empfinden. Und so verwundert es nicht, dass Eltern trotz aller Schwierigkeiten, die sich immer auch einstellen – von anfänglichem Schlafmangel über die Auseinandersetzung mit den ständigen Kinderkrankheiten bis hin zu ersten schulischen Problemen – gerade ihre Elternschaft insgesamt als sinnvoll und glücksstiftend bezeichnen. Umso bedenklicher erscheint es, dass in jüngster Zeit Kinder immer früher und immer länger in fremde Betreuungseinrichtungen abgeschoben werden. Oft wird zu spät erkannt, dass falsche Prioritäten gesetzt wurden, indem das Familienleben der Arbeit geopfert wurde. Gerade sogenannte Karrieristen bereuen später die Vernachlässigung der wahrhaft sinnstiftenden Beziehung zu ihren Kindern auffallend oft.
Im Gegenzug werden alte und gebrechliche Eltern von ihren Kindern immer öfter in Heime abgeschoben. Die kurzfristigen negativen Impulse, die den natürlichen Härten eines familiären Zusammenlebens entwachsen, scheinen heute insgesamt das Handeln zu motivieren. Die zutiefst sinnstiftende und damit auf nachhaltige Weise wohltuende Wirkung eines bewussten Familienlebens wird demgegenüber vernachlässigt.
Doch es gibt auch Geburten jenseits der Familiengründung. Auch diese Alternativgeburten können Anlass eines tieferen Glücksempfindens werden.
Der Mensch selbst ist schließlich kein definitiv festgelegtes, statisches Wesen. Die Gene seiner Vorfahren geben ihm zwar einen äußeren Rahmen für seine geistige und körperliche Konstitution. Sozialisation, Erziehung sowie andere Einflüsse bilden das Innere dieses Rahmens dann aus. Dennoch kann jeder Mensch sich zu einem gewissen Grad neu entwerfen und den einengenden Rahmen etwas erweitern oder neu füllen. Der Mensch kann sich in gewissem Sinne selbst neu gebären.
Oft sind es äußere Krisen, die den Ausgangspunkt für eine Wandlungsbereitschaft darstellen. So beschreibt der Reiseschriftsteller Andreas Altmann (geb. 1949), wie er im Jahr 2004 nach der Tsunami-Katastrophe in Thailand auf der Suche nach einem verschollenen Freund zahlreichen Überlebenden in thailändischen Krankenhäusern begegnete. Sie alle waren voller Dankbarkeit, noch einmal davon gekommen zu sein. Im Angesicht des Todes hatten sie das Leben plötzlich als großes Geschenk begriffen, das sie nun auch freudig annehmen wollten. Sie sahen die Zeit für einen neuen Beginn gekommen. Das glückliche Überleben wurde für sie zu einer zweiten Geburt. Sie wollten ihr Leben ändern, es von nun an bewusster und selbstbestimmter gestalten.
Fast immer sind es psychische oder auch physische Krisen, die dazu führen, Dinge zu hinterfragen und oft genug den Wunsch aufkommen lassen, konkrete Veränderungen im eigenen Leben vorzunehmen. Jede Art von Krankheit kann daher auch als Chance begriffen werden. Der selbst leidgeprüfte Philosoph Friedrich Nietzsche