Ich war in diesem Augenblick so glücklich für sie, dass mir nicht auffiel, dass meine Freundin aufgehört hatte am Barren hin und her zu schwingen. Sie stand auf dem Boden und starrte zu mir herauf. »Solche Sachen darfst du nicht sagen«, meinte sie heftig. »Er ist nicht tot. Du bist ja bloß gemein und ich will nicht mehr deine Freundin sein!«
Ich sprang vom Barren herunter und sah sie mit großen Augen an. Ich verstand nicht, warum meine Botschaft sie so verstört hatte. Ich hatte doch nur das getan, was alle tun können, oder? Ihr stiegen die Tränen in die Augen, und bevor ich es erklären konnte, rannte sie zur Pausenaufseherin und erzählte ihr, was ich gesagt hatte. Daraufhin wurde meine Freundin ins Schulgebäude gebracht, während man mich auf dem Hof stehen ließ. Der Großvater war immer noch da und hatte die Arme um mich gelegt. Er sagte: »O je, Kleine, du hast nichts Unrechtes getan! Eines Tages wird sie begreifen, was du für sie getan hast. Aber du musst verstehen, dass nicht alle Menschen das können, was du kannst. Sie können die Seelen, die von einer Welt in die andere übergehen, nicht sehen. Du musst versuchen, deine Fähigkeit so gut es geht für dich zu behalten. Irgendwann, wenn die anderen dafür bereit sind, werden sie deine Botschaften hören wollen.« Dann kniete er sich hin und umarmte mich, doch ich dachte nur an meine Freundin. Was für seltsame Dinge hatte der Mann zu mir gesagt! Es klang, als wollte er mir einreden, ich sei ein Monster und anders als meine Klassenkameraden. Ich konnte nur den Kopf schütteln, während mir die Tränen aus den Augen strömten. Er wischte sie weg und verschwand. Ich blieb allein zurück und fühlte mich einsam und verwirrt.
Unseren Schuldirektor hatte ich noch nie gemocht wegen all der Gerüchte, dass er sehr streng und hart sein konnte. Nun bekam ich natürlich Angst. Frierend und wie betäubt wartete ich, bis die Pausenglocke klingelte. Dann reihte ich mich in die Schlange ein, die zurück ins Schulgebäude ging. Ich stand bei meiner Klasse und hoffte, nicht in sein Büro gerufen zu werden. Dabei überlegte ich besorgt, was meine Freundin wohl verraten haben könnte. Dann betrat ich das Klassenzimmer, hängte meinen Mantel auf und setzte mich. Kurz darauf schallte es über die Sprechanlage: »Würde Vicki Chadbourne bitte in das Büro des Direktors kommen?« Meine Lehrerin, die ich sehr mochte, sah mich erstaunt an und winkte mich an ihr Pult. »Ist alles in Ordnung, Vicki? Kannst du allein hingehen?« Ich nickte, doch sie kannte mich zu gut. Also nahm sie mich an der Hand und trug der Klasse auf, im Geschichtsbuch weiter zu arbeiten, bis sie in einer Minute wiederkäme.
Es war der unangenehmste Weg, den ich je zurückgelegt hatte. Die warme Hand meiner Lehrerin hielt tröstend meine kalte Hand. Ich war froh, dass sie mitkam und wurde ruhiger, während wir auf das Büro zugingen. »Was immer es ist, ich bin sicher, es wird in Ordnung kommen«, sagte sie. Ich hatte meine Zweifel daran.
Wir wurden sofort in das Vorzimmer eingelassen, und meine Lehrerin wurde gebeten, zurück ins Klassenzimmer zu gehen, da die Sache nicht sie betraf. Während ich ihr hinterher schaute, schnürte sich meine Kehle vor Panik zu und mein Magen verkrampfte sich. Meine einzige Verbündete war weggeschickt worden. Nun war ich allein. Ich wartete im Vorzimmer; es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Die Sekretärin beobachtete mich mit seltsamem Blick.
Schließlich öffnete sich die Tür zum Zimmer des Direktors. Ich sprang auf, als ich meine Freundin aus seinem Büro kommen sah. Wieder versuchte ich, ihr zu erklären, dass es mir Leid tat, sie so zu erschrecken. Doch hinter ihr tauchte ihre Mutter auf und brachte mich mit einem Wink zum Schweigen. »Ich finde, du hast genug Unheil angerichtet, Vicki. Ich möchte nicht, dass du weiterhin mit ihr redest. Ich weiß zwar nicht, was für einen schlimmen Streich du ihr gespielt hast, aber wir hatten gerade einen Todesfall in der Familie. Es war grausam von dir, ihr das zu sagen, ohne dass sie es wusste!«
Sie liefen hastig an mir vorbei. Ich spürte ihre Wut und Trauer. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. »Vicki Chadbourne, bitte eintreten«, sagte eine Stimme aus dem Büro. »Und mach die Tür hinter dir zu.« Voller Angst spähte ich hinein. Ich wünschte mir sehnlichst, dass irgendjemand mir zu Hilfe käme.
Der Direktor stand hinter seinem Schreibtisch und kam mir vor wie ein Riese. Ich schluckte und setzte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bevor er anfing zu sprechen. »Ich kenne dich zwar noch nicht, Vicki, aber ich habe gehört, du seist ein nettes Mädchen. Was hat dich dazu gebracht, solche schrecklichen Sachen zu einer Mitschülerin zu sagen, die deine Freundin ist?« Dann wandte er sich mir zu und schaute mich fragend an. Meine Angst legte sich ein wenig und ich konnte ihm in die Augen sehen. Ich erzählte ihm, was ich gesehen und erlebt hatte. Während er hinter dem Schreibtisch auf und ab ging, hörte er mir aufmerksam zu. »Passiert dir das oft, dass du Verstorbene siehst?«, fragte er. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Am liebsten hätte ich laut heraus geschrien: »Ja, schon seit ich denken kann!« Ich erinnerte mich an den Altar in der Kirche, den ich im Alter von drei Jahren gesehen hatte, aber den hatten doch auch alle anderen sehen können! War ich wirklich verrückt? Bildete ich mir alles nur ein? Was stimmte nicht mit mir?
Zögernd versuchte ich, die Wahrheit zu sagen, ohne in noch größere Schwierigkeiten zu geraten. Ich fürchtete auch, dass alle Mitschüler es erfahren würden. Ich wusste, dass sich an unserer kleinen Schule ein Gerücht in Windeseile verbreiten konnte. Doch ich hatte gehofft, es so lange wie möglich für mich behalten zu können. Ich unterdrückte das Zittern in meiner Stimme, während ich sagte: »Ich sehe Leute, aber ich weiß nicht warum. Ich habe sie nicht gerufen, aber sie tauchen dauernd auf. Und dann soll ich jemandem, den sie lieb haben, überbringen, dass es ihnen gut geht. Ich hab gedacht, ich würde meiner Freundin helfen. Ich wusste nicht, dass es sie zum Weinen bringen würde. Ich wollte sie nicht zum Weinen bringen! Ich habe ihr bloß die Wahrheit gesagt!«
Nun hatte ich es getan. Ich hatte die Wahrheit ausgesprochen. Ich konnte mich nun zurücklehnen und mein Schicksal akzeptieren. Der Direktor ging aus dem Zimmer, und ich wartete, während er mit jemandem telefonierte. Ich konnte hören, dass es meine Mutter war. Gott sei Dank! Meine Mutter hatte schon immer von meiner Fähigkeit gewusst. Sie hatte noch nie ein negatives Wort darüber verloren und mich immer Ernst genommen. Ihre Liebe und Ermutigung waren wundervoll. Ich dankte Gott für meine Mutter. Wenn mir jemand zu Hilfe kommen konnte, dann war sie es.
Ich sprang auf, als der Direktor wieder das Büro betrat. Er ließ die Tür zuknallen und sein Gesicht war rot angelaufen. Ich ließ mich wieder auf den Stuhl sinken. »Deine Mutter hat den Quatsch, den du vorhin fabriziert hast, auch noch bestätigt! Sie behauptet, du hättest schon immer Verstorbene gesehen. Sie sagt, sie hätte den Fehler gemacht, dir nicht zu sagen, dass nicht jeder so etwas sehen kann.« Er starrte mich an und fragte: »Siehst du in diesem Augenblick jemanden hinter mir?«
Noch bevor ich die Frage bejahen konnte, sah ich eine hübsche junge Frau – seine Tochter – hinter ihm stehen. Doch er schnitt mir das Wort ab. »Genau das dachte ich mir! Du erfindest diesen Blödsinn, um Aufmerksamkeit zu erringen. Du kannst keine Toten sehen, das ist unmöglich. Was du deiner Freundin angetan hast, ist grausam. Da es keinen Grund dafür gibt, bin ich gezwungen, dich drei Tage von den Pausen auszuschließen.«
Ich seufzte, doch mir war klar, dass die Strafe viel schlimmer hätte sein können. Ich wusste, dass andere zuhörten, wenn meine Mutter die Wahrheit sagte, auch wenn sie nicht ihre Meinung teilten. »Du wirst dich bei der Familie deiner Freundin schriftlich entschuldigen. Ich brauche eine Abschrift für meine Unterlagen.« Dann schickte er mich zurück in mein Klassenzimmer. »Und verliere kein weiteres Wort darüber, verstanden?« Ich schüttelte den Kopf und ging schnurstracks zur Tür. »Vicki, wenn du dir weiterhin einbildest, Verstorbene zu sehen, wirst du ein sehr einsames Leben führen und oft zum Arzt gehen müssen. Das ist der falsche Weg, um Aufmerksamkeit zu bekommen«, sagte er zum Abschluss. Ich nickte und ging zu meiner Klasse zurück.
An diesem Tag konnte ich es kaum erwarten, bis endlich Schulschluss war. Dabei hatte der Tag wie jeder andere begonnen. Ich sprang aus dem Schulbus und rannte in unser Haus. Wie immer wartete meine Mutter schon auf mich.