„Was studierst du denn?“, fragte mein jüngeres Ego.
„Sonderpädagogik“, sagte ich, „übrigens: Ich heiße Christoph!“ „Ich bin Max. Na, da hast du ja wirklich Glück gehabt, ich studiere nämlich den gleichen Quatsch.“
Ich fing an, mir die Vor- und Nachteile des Frankfurter Fachbereichs zu erklären, und ich hatte Zeit, mich in Ruhe anzuschauen. Max als Studienanfänger. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie sehr sich Menschen verändern. Der hochaufgeschossene Jüngling, der da mit kieksiger Stimme auf mich einredete, war ich und war doch nicht ich. Dem da fehlte so viel an Erfahrung, an Reife und an Gelassenheit. Ein typischer Student. Ich war enttäuscht.
Mein 21-jähriges Ich entpuppte sich als unangenehmer Kerl, mit dem ich bestimmt keine Freundschaft geschlossen hätte: zutiefst von sich überzeugt, schnoddrig, unreflektiert, aber vollgestopft mit altklugen Sprüchen. Die dünnen Härchen am Kinn und die schulterlangen Haare wirkten vernachlässigt, und die Hände zuckten die ganze Zeit nervös zur Seite, als wollten sie etwas greifen. Kein Wunder, dass ich damals so oft Krach mit meinem Vater hatte, durchfuhr es mich. Ich war zwar während meines Zivildienstes in Kassel von zu Hause ausgezogen, dann aber wieder zurückgekehrt.
Nach dem Seminar gingen wir zusammen ins „Piccolo Giardino“, ein kleines italienisches Restaurant im Nordend, und ich fragte mich nach meinen Zukunftsplänen: „Willst du später ernsthaft als Sonderschullehrer arbeiten?“
Max, der jüngere, zögerte einen Moment, dann sagte er: „Keine Ahnung. Ich mache erst mein Studium fertig, dann gucke ich weiter.“
„Das klingt ja sehr begeistert“, sagte ich.
Er spielte mit dem Salzstreuer, in dem kleine Reiskörner wie Fische im Aquarium schwammen, und zuckte mit den Schultern: „Na, findest du diese Jugendlichen in den Schulbänken etwa toll?“
„Nein, deswegen werde ich auch zum nächsten Semester das Fach wechseln. Ich werde mit Altphilologie weitermachen!“
„Aha!“ Er grinste mich spöttisch an: „Meinst du nicht, dass du in deinem Alter mal langsam einen Abschluss machen solltest?“
Ich knurrte nur, weil mir in diesem Augenblick klar wurde, dass es mir niemals gelingen würde, mich in der Gestalt eines 35-Jährigen von einem Studienfachwechsel zu überzeugen. Ich erinnerte mich daran, wie kritisch ich damals gegenüber Bummelstudenten gewesen war, die fünfmal mit einem neuen Fach anfangen und dann nach dem Examen direkt die Rente beantragen.
Also versuchte ich einen anderen Weg: „Kennst du Lukian?“
„Nee, nie gehört! Wer soll das denn sein?“
Ich schlug die Beine übereinander: „Das ist ein Kabarettist und Schriftsteller aus dem zweiten Jahrhundert, dessen Karriere mit einem Traum anfing, den er als junger Mann hatte. Er wollte unbedingt Anwalt und Redner werden. Und es gab nur einen ernsthaften Hinderungsgrund: Lukian lebte in Samosata am Euphrat, also in Syrien, die Weltsprache der damaligen Zeit war aber Griechisch. Doch er wusste, dass man, wenn man eine Vision für sein Leben hat, groß denken muss. Also setzte er sich hin und studierte monatelang bei verschiedenen Lehrern Griechisch, bis er die fremde Sprache fließend sprechen und schreiben konnte. Und dann zog er los und fing an, seinen Traum zu leben.“
Max wirkte genervt: „Ja und?“
„Du meinst, warum ich dir das erzähle? Weil mich der Typ fasziniert. Weil er einer war, der wusste, was er wollte. Und dafür war ihm kein Weg zu mühsam und kein Hindernis zu groß. Ich glaube, dass ich jetzt in meinem Studium auch endlich an dem Punkt bin, an dem ich weiß, welchen Traum ich habe. Und ich bin jetzt auch bereit, was dafür zu investieren. Ich habe zu lange alles mit halbem Herzen gemacht, jetzt fang ich an.“ Ich machte eine Pause, dann blickte ich ihm direkt in die Augen: „Weißt du, was du willst?“
Er wich meinem Blick aus. „Keine Ahnung! Meinst du, ich soll Griechisch lernen, oder was? Das hat mir schon an der Schule gereicht.“
„Na ja, es gibt sicher Schlimmeres. Eines ist jedenfalls sicher: Wenn dich das Unterrichten jetzt schon ankotzt, dann wäre es ja wohl das Sinnloseste, die nächsten 30 Jahre damit zu verbringen.“
Mein jüngeres Ich schaute mich genervt an. „Und was hat dieser Lukian davon gehabt? Heute kennt ihn keiner mehr!“
„Na, immer langsam! Ich bin ziemlich sicher, dass er ein sehr zufriedener Mensch war. Und es ist ja nicht übel, nach 1800 Jahren immer noch gedruckt zu werden. Das können nur wenige von sich sagen. Außerdem hat Lukian eine Menge anderer Dichter und Denker inspiriert. Goethe hat sogar die Geschichte vom Zauberlehrling von ihm geklaut. Ich jedenfalls gehe fest davon aus, dass ich als Altphilologe mehr über das Leben lerne als in der Sonderpädagogik.“
Irgendwie wusste ich nicht weiter. Ich kam mir dumm vor. Ich saß da und versuchte, mich selbst von etwas zu überzeugen, von dem ich als 35-Jähriger gar nicht mehr überzeugt war. Und doch musste ich mich vor einem Beruf retten, der mich ruiniert hätte.
Ich starrte auf meinen Teller, stocherte lustlos in meinen „Fettucine a la panna“, grübelte vor mich hin und suchte nach Argumenten. Max sah mich nachdenklich an. Als ich mit dem Blick dem Weinglas folgte, das er zum Mund führte, bemerkte ich, wie sich der geblümte Vorhang vor dem Windfang bewegte und eine Gruppe gut gelaunter Studentinnen aus der Kälte hereinkam. Die ersten beiden setzten sofort ihre Brillen ab, die in dem stickigen Raum beschlugen, und blickten mit großen Augen in den Raum. Die dritte strich sich genüsslich die Haare aus dem Gesicht und gab ihrer Freundin eine flapsige Antwort auf etwas, das diese gesagt hatte. Es war Verena.
Verena, die Wilde, die Verrückte, die einzige Liebe meiner Studentenzeit. Verena, die Frau, die immer in der Angst lebte, etwas zu versäumen. Sie war es, die mir beigebracht hatte, Dinge um ihrer selbst willen zu tun: Tanzen, Singen und Spazierengehen, Weinen oder Streiten. Wir hatten drei wundervolle Jahre miteinander verbracht, in denen ich angefangen hatte, das Leben zu lieben. Als sie dann nach Hamburg gezogen war, um ihr Studium zu beenden, führten wir noch eine Zeit lang eine Wochenendbeziehung.
Doch es ging uns wie so vielen. Da wir uns nur selten sahen, hatten wir keine gemeinsame Geschichte mehr. Wenn wir jetzt Zeit miteinander verbrachten, drehten wir uns nur noch umeinander und verloren dabei den Alltag völlig aus dem Blick. Nach den Wochenenden kehrte jeder in eine dem anderen unbekannte Welt zurück. Trotzdem hätte unsere Beziehung vielleicht überlebt, wenn ich sie nicht mit meiner Eifersucht kaputt gemacht hätte. Verena hasste es nämlich, kontrolliert zu werden, und ich hasste es, wenn sie immer wieder von Kommilitonen erzählte, mit denen sie ausgegangen war. Einmal hatte ich in meiner Wut und Ohnmacht, als sie mir am Telefon von einer „tollen“ Party mit „echt netten Männern“ erzählte, ein Stück aus dem Glas gebissen, das ich gerade in der Hand hielt.
Ich glaube nicht, dass sie mich jemals betrogen hat, aber es reizte sie so sehr, mein Vertrauen auf die Probe zu stellen, dass sie in ihrem Übermut immer verfänglichere Situationen herbeiführte. Je eifersüchtiger ich wurde, desto herausfordernder lebte sie: Sie ging ständig mit Studienkollegen in die Sauna, ließ nach langen Lernabenden Freunde bei sich übernachten, berichtete stolz, welche Männer an ihr interessiert seien und betonte bei all dem, dass sie doch wohl nicht mein Eigentum sei.
Für sie war das alles ein amüsantes, reizvolles Spiel, aber sie beendete es nicht, solange sie die Spielregeln noch kontrollieren konnte. Und ich Idiot war so eifersüchtig, dass ich anfing, ihr Verbote zu erteilen; was sie natürlich nur noch mehr reizte und anstachelte. In meiner Hilflosigkeit und Verzweiflung verlor ich wohl all die Eigenschaften, die Verena jemals an mir geliebt hatte. Und als wir uns trennten – das dachte ich damals jedenfalls –, wollte keiner von uns beiden, dass es passierte. Aber wir hatten uns zu sehr herausgefordert.
Später heiratete sie einen Mediziner, der vor ihrer Scheidung mehrfach fremd ging. Ich schäme mich noch heute dafür, dass mir diese Entwicklung eine innere Genugtuung bereitete. Aber das sollte ja alles erst sehr viel später kommen.
Jetzt war die 20-jährige Verena im Raum, und mir fiel wieder ein, dass