Van Dyck musste eine meiner Bewegungen gehört haben, denn er kam hinter der Leinwand hervor und blendete mich mit einer Kerze, die unter einem Glassturz stand, sodass ich die Augen zusammenkneifen musste. Er betrachtete mich eine Zeit lang kritisch, dann murmelte er: „Beschreibe dieses Bild, von dem du gesprochen hast!“
Ich schluckte und versuchte, mich daran zu erinnern, was der Künstler mir über das Bild erzählt hatte. Ich richtete mich auf, sackte aber wieder zusammen, als ein stechender Schmerz durch meinen Kopf fuhr.
Leise sagte ich: „Das Bild zeigt auf der linken Seite den König mit seinem Degen und einem Spazierstock. Auf der rechten Seite steht ein Pferd, das so aussieht, als ob es lacht. Ein Reitknecht hat seinen Arm auf den Rücken des Tieres gelegt, während ein junger Mann hinter ihm gedankenverloren, nein, eher fragend, in die Ferne schaut.“
Die Augen des Malers verengten sich: „Welche Farbe hat das Pferd?“
„Es ist weiß!“
„Welche Farbe hat die Hose des Königs?
„Sie ist rot!“
Van Dyck packte mich brutal am Ärmel und zog mich hoch. Er stieß mich so schnell vorwärts, dass ich fast gestolpert wäre. Plötzlich griff seine Hand in meine Haare und drehte meinen Kopf zu dem Bild, an dem er eben gearbeitet hatte.
„Wie bist du hier hereingekommen?“
Ich schwieg. Auf der Staffelei stand das Gemälde von König Charles. Es sah eigentlich genau so aus, wie ich es beschrieben hatte, obwohl das Licht aus einem anderen Winkel zu kommen schien. Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich den entscheidenden Unterschied: Auf der Leinwand waren nur der König und der Reitknecht zu sehen. Ich in Gestalt des jungen Mannes fehlte darauf.
Van Dyck schüttelte mich: „Niemand darf meine Bilder betrachten, bevor sie fertig sind. Ich hasse das, hörst du, ich ertrage es nicht. Das wissen sogar meine geringsten Diener. Also: Wie bist du hier hereingekommen?“
Ich packte seinen Arm und befreite mich aus dem schmerzhaften Griff.
„Sir, ich habe offensichtlich das falsche Bild beschrieben. Also kann ich nicht hier gewesen sein. Auf diesem Gemälde sind nur zwei Männer, ich habe aber von dreien gesprochen. Auf meinem Bild sieht man drei Männer. Hier fehlt der Dritte – Ihr seid also, mit Verlaub, im Irrtum. Ich weiß auch gar nicht, warum Ihr Euch so aufregt …“
Van Dyck starrte ins Leere. Er hatte meine Worte ignoriert, darum hörte ich auf zu reden und blickte in sein konzentriertes Gesicht. Unbewusst massierte er sich mit der linken Hand das Ohrläppchen. Er nahm ein Stück Kohle vom Tisch und begann, mit schnellen Strichen etwas zu skizzieren.
Nach einigen Minuten murmelte er leise vor sich hin: „Nicht zwei Figuren, nein, drei, das ist gut, das ist richtig gut. Drei Personen, drei Elemente und Ideen, die irgendwie zusammengehören: Geist, Seele und Körper. Vater, Sohn und Heiliger Geist. Denken, Träumen und Handeln. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart. Drei in einem. Drei Männer können zusammen die ganze Welt sehen, jeder 120 Grad. Jeder braucht die anderen und doch herrscht einer über sie. Er verkörpert die Macht des Augenblicks, die Herrschaft des Hier und Heute. Denn die Gegenwart ist die Königin des Seins. Darum muss einer dem Betrachter ins Gesicht sehen. Er, der König, der oberste Regent der Gegenwart, ragt heraus – er ist präsent, er bestimmt, er hat das Jetzt im Griff, während die anderen nach vorne und zurück schauen und darin versinken. Das gegenwärtige Sein steht im Vordergrund, der Blick zum Morgen ist der Blick des aktiven Arbeiters, während der gut gekleidete Page ins Gestern schaut. Die Vergangenheit steht im Hintergrund, die Zukunft bleibt der Gegenwart ebenbürtig, doch von ihr abhängig. Das Licht kommt von schräg hinten, es strahlt auf den Herrscher, der aber seinerseits den wärmenden Mantel des Pagen braucht, wenn er nicht erfrieren will. Es ist kalt ohne Vergangenheit. Und man kommt nicht vorwärts, wenn einem nicht die Träume mit schnellen Hufen voraneilen. Darum hat die Zukunft mit ihrem schattigen Gesicht ein schnelles Reittier an der Hand. Das ist der Lauf der Zeit. Stell dich da hin!“
Er deutete bestimmt auf einen Punkt hinter der Staffelei und wandte sich zu seiner Palette, die auf einem kleinen Schemel lag und im Licht der Kerzen glitzerte.
Ich verstand ihn nicht sofort: „Was ist los?“
Der Maler wiederholte seine Bewegung: „Du hast Recht. Ich weiß nicht warum, aber du hast Recht. Das Bild stimmt so, wie es jetzt ist, nicht. Seit Tagen überlege ich, was mir nicht gelungen ist, warum es mir nicht gefällt. Jetzt weiß ich es: Das Entscheidende fehlte. Zwei Figuren zeigen immer ein Gegeneinander, wenn es drei sind, beginnt das Ganze zu leben. Ich mache aus einem Königsporträt ein Meisterwerk über die Zeit. Zwischen Hell und Dunkel, zwischen die leuchtende Gegenwart und die fordernde Zukunft, zwischen König und Reitknecht drängt sich der fahle Schein dessen, der weiß, wo alles herkommt. Denn was ist die Gegenwart ohne die Vergangenheit? Ich werde dich in das Bild einbauen. Du bist die Vergangenheit. Ich muss dich allerdings kleiner malen als in der Realität, denn du bist ja fast einen ganzen Kopf größer als der König, aber das bekomme ich schon hin. Also, stell dich da hin!“
„Nein!“
Van Dyck blickte auf, als habe er ein Wort vernommen, das noch nie an sein Ohr gedrungen war.
„Bist du wahnsinnig geworden? Vorhin wolltest du unbedingt …“
„Ich bin gern bereit, Modell zu stehen, ich stelle nur eine Bedingung: Ich will euch dabei eine Geschichte erzählen dürfen.“
Der Maler hob die Augenbrauen: „Normalerweise bevorzuge ich zwar Musik beim Arbeiten, aber wenn du beim Erzählen einigermaßen ruhig stehen bleiben kannst, soll es mir recht sein.“
So verharrte ich, Stunde um Stunde, und blickte zurück in die Zeit, in meine Zeit, in die Jahrhunderte, die der Welt noch bevorstanden. Und ich ließ all das hervorströmen, was mir seit nunmehr 365 erlebten Jahren den Verstand rauben wollte, meine ganze Angst, meine Ruhelosigkeit und meine Verzweiflung.
Irgendwann hörte Van Dyck auf zu arbeiten und ließ uns etwas zu essen bringen. Er, der große Hofkünstler, das Wunderkind, das schon als junger Mann oberster Assistent von Peter Paul Rubens war, lauschte einem ratlosen Bauarbeiter, der durch widrige Umstände in sein Atelier gekommen war. Ich hatte ihm geholfen, er half mir. Und es tat unendlich gut, zu schimpfen, zu wüten, zu schreien, zu weinen und diesen Sack voller Fragen, der sich während meines selbst verordneten Schweigens in meiner Seele angefüllt hatte, zu öffnen.
Anfangs war der Drang, Worte zu finden, so groß, dass meine Erlebnisse wohl sehr wirr geklungen haben müssen. Ich holte Erinnerungen und Gefühle aus 365 Jahren hervor und warf sie meinem ersten Zuhörer hin.
Van Dyck ließ mich gewähren, zwei, vielleicht drei Stunden lang. Dann unterbrach mich der Künstler das erste Mal, sehr vorsichtig, ja fast zärtlich: „Wie fing alles an?“
1999 Ich kann mich noch an die Farbe des Kleides von Anna erinnern. Ein dunkles Blau mit eingesponnenen Silberfäden. Sie hatte es schon im vergangenen Jahr an Silvester getragen, weil ich es liebte, ihren nackten Rücken zu betrachten. Ich traf sie vor dem Haus, als sie gerade aus ihrem Polo stieg. (Van Dyck stutzte, also sagte ich: „Eine Kutsche ohne Pferde“.) Ich hatte nicht gewusst, dass sie auch zu dieser Party („Hofball“) kommen würde, und fühlte mich unbehaglich. Aber wenn man sich nach fünf Jahren trennt, hat man nun einmal noch einige Zeit den gleichen Freundeskreis.
Anna war unsere Beziehung nach einiger Zeit zu eng geworden, meine Lust am Heiraten, meine enge Welt der Altphilologie („Magister der alten Sprachen“), mein Eingebundensein in die „existenzverneinende“ Welt der Universität, wie sie es immer nannte, das Dahinvegetieren mit einer halben Assistentenstelle („Dasein als Adlatus“), mein zusätzliches Jobben auf dem Bau („Arbeit im Baugewerbe“), meine fruchtlose Forschungsarbeit über den „Humor als Mittel der Zeitkritik. Sprachmuster in den Satiren Lukians“, in der ich nachweisen wollte, dass der feixende Dichter des zweiten Jahrhunderts bewusst die erzählerischen Traditionen seiner Epoche aufgenommen hatte, um durch diese Verfremdungen die damaligen Stil- und Kunstformen als Farce zu entlarven.
Anna