„Nicht einschlafen!“ Wald stieß ihn von der Seite an. Pepe fröstelte. Er wusste nicht, wie lange der Knochensammler gespielt hatte. Doch als dieser offenbar meinte, er hätte genug Trübsinn in seine dunklen Gänge hinausgeflötet, nahm er den Topf mit den Knochen vom Feuer und füllte die Brühe in drei matte Schalen. Eine Handvoll Feigen kam aus seiner Manteltasche zum Vorschein, die er mit seinen langen dürren Fingern neben die Schälchen legte.
Die Suppe schmeckte fad und wässrig, aber wider Erwarten nicht schlecht. Die Feigen waren trocken, aber voller Geschmack. „Was gäbe ich jetzt für ein Stück Speck und Ziegenkäse“, grunzte Wald, verschlang die heiße Suppe jedoch gierig.
Satt, erschöpft und schläfrig lehnten sie sich mit dem Rücken an die kalten Felswände. Doch der Knochensammler erhob seine rauchige Stimme: „Zeit, aufzubrechen.“
Er füllte seine Grubenlampe und die Gefährten brachen schweigend auf. Sie marschierten zügig durch die dunklen verlassenen Schächte. Nach einer guten Stunde erreichten sie eine schmale Stiege, die abwärtsführte. Geiswind leuchtete mit seiner Grubenlampe in den dunklen, steil abfallenden Schacht und grunzte: „Brecht euch bloß nicht die Knochen.“
Langsam und vorsichtig stiegen sie abwärts. Nach einigen Metern vernahm Pepe ein fernes Gluckern. Mit jedem Schritt wurde das Glucksen lauter, kam näher, und als er meinte, schon neben einem Bach zu stehen, erreichten sie ein hohes Gewölbe. Pepe konnte die Decke nicht ausmachen. Die Höhle schien sich weit auszustrecken. Ganz in ihrer Nähe floss träge ein schwarzer Fluss. Das Licht der Grubenlampe schimmerte schwach auf seiner Oberfläche.
Geiswind führte sie etwa hundert Schritte flussaufwärts und kniete am felsigen Ufer neben einem alten Floß nieder. „Hier ist es.“ Er band den verwitterten Strick, der das Floß am Ufer hielt, los. „Steigt auf. Aber Vorsicht! Es hat schon bessere Tage gesehen.“
Skeptisch betrachtete Wald die modrigen Planken. „Das ist nicht dein Ernst, Knochensammler?“ Seine Augen durchbohrten Geiswind.
Geiswinds knöcherne Schultern zuckten. Die Grubenlampe flackerte. „Habt ihr eine Wahl?“ Er musterte Pepe. „Folgt dem Fluss. Passt auf. Die Strömung ist schnell. Mit etwas Glück erreicht ihr gegen Morgen den Ausgang.“
Die modrigen Planken ächzten, als Wald seine schweren Vorderpfoten auf ihnen platzierte. Das Floß neigte sich zur Seite. Pepe folgte ihm vorsichtig.
„Gib uns wenigstens deine Lampe!“ Bittend sah er den dürren Knochensammler an. Geiswind wühlte in seiner Tasche, kramte einen Kerzenstummel heraus und entzündete ihn an der Lampe. Dann reichte er Pepe seine Grubenlampe und stieß das Floß mit seinem Knochen ab. „Die Lampe hat genug Öl bis zum Ausgang. Greif unter dich, Junge. Dort findest du einen Stecken. Ihr werdet ihn brauchen, um euch abzustoßen.“
Wald drehte sich bedächtig um die eigene Achse. „Ich habe dich gewarnt, Knochensammler. Du solltest keine Spiele mit uns treiben!“ Sein Ruf hallte zum Ufer. Keine Regung war im Gesicht des Alten zu erkennen. Dann, das Floß hatte sich schon um fünf Längen vom Ufer entfernt, sah Pepe ein Lächeln über das Gesicht des Knochensammlers huschen. Auch dieses konnte er nicht deuten.
Die Strömung packte das Floß und trug sie schnell aus dem Gewölbe hinaus. Die Kerze Geiswinds wurde kleiner und verschwand. Der Nebenarm der Bracht trug sie in einen niedrigen Tunnel hinein. Pepe kauerte fast liegend auf dem Floß, um sich nicht an den spitzen Felsen zu stoßen, die aus der niedrigen Decke ragten. Die Nässe zog sich durch seine Kleidung und weil er sich nicht bewegen konnte, begann er nach kurzer Zeit erbärmlich zu frieren. Er konnte seine Fußspitzen und seine Hände vor Kälte kaum noch spüren.
Misstrauisch blickte Wald in die Schwärze und murmelte: „Sollte mich wundern, wenn das gutgeht. Entweder wir brechen uns auf dieser letzten Reise das Genick und der dürre Vogel sammelt später unsere Knochen auf. Oder aber er ist der erste ehrliche Knochensammler, den ich in meinem Welfenleben getroffen habe. Dann, aber ich halte das nicht für wahrscheinlich, kommen wir hier wirklich an einem Stück hinaus.“
Pepe und Wald kauerten wie versteinert am Boden des Floßes und verloren jedes Zeitgefühl. Die nasse Fahrt schien sich über Stunden zu ziehen. Pepe wusste nicht mehr, ob es draußen Tag oder Nacht war. Der schwache Schein der eisernen Grubenlampe erleuchtete immer nur den nächsten Meter und sie schienen in einem endlosen Labyrinth aus schwarzem Wasser und herabragenden Felsen gefangen zu sein.
Pepe spürte, dass die Strömung stärker und ihr Floß von der Flussmitte zum linken Ufer gezogen wurde. Er meinte, in der Ferne ein leises Rauschen zu hören. Pepe richtete sich auf und hob den Stecken an. Täuschte er sich oder war das Rauschen lauter geworden? Glitschig lag der feuchte Knochen in seiner Hand. Doch – da. Das Rauschen schwoll an und wurde bald zu einem ohrenbetäubenden Tosen.
Pepe kroch gebückt auf den vorderen Teil des Floßes. Das alte Floß schwankte bedrohlich. Kniend begann Pepe sich mit aller Kraft gegen die Strömung zu stemmen und versuchte, das Floß zurück in die Mitte des Flusses zu steuern.
Wald blickte beunruhigt in die tanzenden Schaumkronen vor sich. „Bring uns zurück in die Mitte, Pepe!“, keuchte er. „Schaffst du das?“
Pepe blickte sich hektisch um. Der Fluss schien sich zu teilen. Während der Hauptstrom weiter beharrlich geradeaus floss, hatte sich das Bild zu ihrer Linken verändert. Eine Nebenströmung hatte sie erfasst und zog sie unwiderstehlich mit sich.
Ihr Floß schwankte bedrohlich, als Wald versuchte, sich aufzurichten. „Pepe!“, brüllte er. „Du musst uns in die Mitte bringen!“
Pepe war wie versteinert. Walds Brüllen drang nur wie ein leises Flüstern in seine Ohren. Gebannt starrte er auf den Schlund, der sich auf der linken Seite öffnete. Nicht weit vor ihnen stürzten die Wassermassen mit einem Höllenlärm in die Tiefe. Seine Ohren dröhnten. Aus den Augenwinkeln und wie in Zeitlupe sah er Wald ins Wasser springen. Er verlor das Gleichgewicht, schwankte nach hinten, tat einen Schritt und stürzte auf die Knie. Walds Kopf tauchte neben dem Floß auf und wie durch einen Nebel nahm er wahr, dass Wald etwas rief.
„Hilf mir!“, brüllte Wald. „Stoß uns ab!“
Jetzt war Pepe hellwach. Nur noch wenige Bootslängen trennten ihn von dem Schlund. Nur noch Sekunden trennten ihn und Wald von einem Sturz in die undurchdringliche schäumende Schwärze. Wald drückte mit der Macht seines stämmigen Körpers gegen das Floß und Pepe stieß den langen Knochen mit aller Kraft dicht neben ihm in den Grund des Flusses. Der Stecken griff. Pepes Arme brannten. Wieder und wieder stieß er den Stab ins schwarze Nass. Dann, Pepe hatte die Hoffnung schon tausendmal aufgegeben, vergrößerte sich der Abstand zu dem Schlund und der Sog ließ nach. Sie waren aus der Strömung heraus.
„Das hätte dem Knochensammler gefallen“, keuchte Wald mit der Schnauze auf dem Floß. „Hübsch zerschellt wären wir da unten in der Tiefe.“
Pepe stieß das Floß mit einem letzten Ruck ab und zog den Stecken ein. Wald paddelte neben ihm. Pepe schloss die Augen. „He, sieh nach vorne!“, hörte er Wald neben sich. Pepe versuchte seine Augenlieder aufzuschlagen. Sie waren schwer wie Blei und ihn beschlich das albtraumhafte Gefühl, sie nie wieder öffnen zu können. Doch als er sich mit aller Kraft zwang und sie einen Schlitz weit aufdrückte, sah er einen hellen Sonnenschein am Ende des Tunnels. Das schreckliche Tosen lag hinter ihnen. Der Strom floss wieder ruhig und gluckerte friedlich.
„Gleich haben wir es geschafft“, murmelte Wald. „Ich glaube, du musst abbremsen, Pepe.“
Pepe ging in die Knie und verlangsamte mit dem Knochen die Fahrt.
Wald tauchte unter dem Floß hindurch und schob es mit kräftigen Paddelstößen langsam ans linke Ufer. Nass, durchfroren und müde erreichten sie die warme helle Öffnung, durch die sich der Fluss ins Freie ergoss.
Zitternd vor Kälte verließen