Mutter und Sohn setzten sich und hörten schweigend zu, wie Stefanie oben für Leoni ein Gute-Nacht-Lied sang. Meistens las sie eine Geschichte vor oder erzählte eine, aber manchmal wollte Leoni ein Lied gesungen haben, wie früher, als sie noch kleiner war. Stefanie hatte den Eindruck, dass das immer dann der Fall war, wenn ihr aus irgendwelchen Gründen emotionale Geborgenheit fehlte. Nicht immer wusste die junge Mutter, was der Grund dafür war.
Als die drei Erwachsenen zusammensaßen, schnitt Stefanie einige Äpfel auf, verteilte die Stücke an Mann und Schwiegermutter und erzählte zunächst einige Erlebnisse aus dem Altenheim, wo sie zu wechselnden Zeiten halbtags pflegerisch tätig war. Dann begann Thea behutsam zu berichten:
„Leoni war bei Opa. Das ist ja eigentlich was Schönes. Er freut sich an seiner Urenkelin. Und sie freut sich an ihm. Nur ... “
In die Pause hinein fragte Paul: „Nur?“
„Er erzählt oft vom Krieg. Auch heute. In allen grausamen Einzelheiten. Das ist sicher nicht gut für das Kind.“
„Nein, bestimmt nicht!“ Stefanie blickte von ihren Äpfeln auf.
„Ich habe es ihm schon mehrmals gesagt. Aber entweder versteht er mich nicht, oder er vergisst es wieder. Oder er setzt sich bewusst über meine Bedenken hinweg.“
„Dann werde ich mal mit ihm reden. Oder du, Paul. Ich will nicht, dass unser Kind mit solch blutigen Geschichten aufwächst.“
„Neulich hat er mir entgegengehalten, die Grimm‘schen Märchen seien auch grausam.“
Paul warf ein: „Das ist natürlich Unsinn! Und das weiß er auch, oder sollte es zumindest wissen. Das ist gar nicht zu vergleichen. Ich werde mal mit ihm reden. Es wäre schade, wenn wir wegen seiner Haltung Leoni verbieten müssten, ihren Uropa zu besuchen.“
Thea kaute überlegend an einem Apfelstück und meinte nach einer Weile: „Irgendwie kann ich ihn ja verstehen. Der Krieg mit all seinen Schrecken war gewissermaßen der Höhepunkt seines Lebens. Oder – ‚Höhepunkt‘ klingt vielleicht zu positiv – die Phase seines Lebens mit den dichtesten Erlebnissen, voller Gefahren und Spannungen. So etwas prägt. Manche verdrängen das und wollen nie wieder davon reden. Bei anderen ist es wohl genau umgekehrt. Wenn sie nicht davon sprechen können, fühlen sie sich um etwas Wichtiges betrogen. Man nimmt ihnen einen entscheidenden Teil ihrer Geschichte. Und damit einen wichtigen Teil von ihnen selbst. Ein Loch entsteht, ein Vakuum.“
„Hast du heimlich Psychologie studiert?“, fragte Stefanie schmunzelnd.
Und Paul meinte: „Scharfsinnig analysiert! Kannst du diesen analytischen Scharfsinn nicht auch mal auf deinen Sohn richten?“
„Wie meinst du das?“
„Die Frage war nicht sehr scharfsinnig. Du solltest dir denken können, wie ich das meine.“
Thea reagierte nicht. Paul setzte nach:
„Meinst du nicht, dass bei deinem Sohn auch ein Loch entstehen muss, solange er nicht weiß, wer sein Vater ist?“
„Ach, fang nicht wieder damit an, Paul!“ Seine Mutter blickte unter sich.
„Ich werde immer wieder damit anfangen, bis ich eine Antwort bekomme. Oder bis ich verstanden habe, warum du schweigst. Aber weshalb ich heute damit anfange, das hat noch einen besonderen Grund. Es kann sein, dass wir es auf anderem Wege erfahren, und da will ich dir vorher die Chance geben, es von dir aus zu sagen.“
„Auf anderem Wege? Das verstehe ich nicht.“
„Ich habe auf dem alten Heuboden ein Tagebuch gefunden. Von einer Rebekka Schimmel. Urgroßvater und Urgroßmutter müssen dort Juden versteckt haben. Ich wundere mich, dass ich bisher nichts davon wusste. Ein Familiengeheimnis also. Und da liegt der Gedanke nahe, dass auch die Geschichte meines Vaters damit zusammenhängt.“
„Aaron und Rebekka Schimmel! Ich ahnte nicht, dass sie ein Tagebuch geführt haben.“
„Du wusstest also davon ... “
„Ich war ein kleines Mädchen damals. So wie Leoni jetzt. Meine Erinnerungen sind sehr lückenhaft.“
„Und – stimmt es, dass es da einen Zusammenhang gibt mit meinem Vater?“
Thea schwieg einige Augenblicke, bis sie zur Antwort gab: „Nur indirekt.“
„Aber warum habt ihr nie davon erzählt, du oder Großvater?“
„Aus dem gleichen Grund. Ja, das kann man vielleicht so sagen. Ach, Paul – es tut mir leid, diese Geheimniskrämerei. Ich weiß sehr wohl, dass du ein Recht hast, von deinem Vater zu erfahren. Ich verspreche dir, in nicht allzu ferner Zukunft werde ich dir alles erzählen.“
Paul sagte leise: „Ich habe von dir immer viel Liebe erfahren, Mutter. Darum kann ich mir nicht denken, dass du mir ohne triftigen Grund Schmerzen zufügst. Den Schmerz, mir die Auskunft vorzuenthalten. Aber es wäre leichter für mich, wenn ich wenigstens den Grund wüsste.“
Eine Weile herrschte Stille. Nur langsame Kaugeräusche waren zu hören.
Stefanie blickte plötzlich auf. „Hat es mit Opa zu tun?“
„Wie kommst du darauf?“
„Du hast schon mal gesagt, du würdest das Geheimnis bald lüften. Aber worauf wartest du? Willst du dein Schweigen brechen, wenn Opa gestorben ist?“
Thea sah erst sie und dann ihren Sohn an. Schließlich sagte sie leise: „So viel kann ich zugeben: ja.“
Paul versuchte zu raten: „Wäre er mit meinem Vater nicht einverstanden gewesen? Aber das ist doch kein Grund ... “
„Bitte, Paul!“
Es war offensichtlich, dass sie das Thema wechseln wollte. „Das Tagebuch von Schimmels – ich würde es dann auch gern mal lesen.“
„Sicher“, antwortete Stefanie. „Lass es uns nur erst zu Ende lesen. Es dauert etwas. Ich lese mir alles mühsam durch, notiere mir auch einiges in meiner eigenen Schrift, was nur schwer zu entziffern ist, und lese es dann Paul vor. Aber dann kannst du es natürlich auch lesen.“
„Tut mir einen Gefallen: Erzählt Großvater nichts von dem Tagebuch!“
„Warum nicht?“
„Ich vermute, wenn ihr es bis zu Ende gelesen habt, könnt ihr euch die Antwort selbst geben.“
Paul fragte: „Wenn das Geld, die 25 000 Mark, nicht von meinem Vater sein sollten, wie du behauptest, können sie dann von diesen Leuten sein, die hier versteckt waren?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete seine Mutter, „aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich.“
5
Das Gespräch mit Thea hatte Pauls und Stefanies Neugier noch gesteigert. Aber beide hatten ihre täglichen Pflichten. Erst am nächsten Tag nach dem Mittagessen, wo sie sich sowieso eine kleine Pause angewöhnt hatten, nahmen sie sich das Tagebuch wieder vor.
22. Juli 1941
Jetzt liegt die Heuernte hinter uns. Das brachte einige Veränderungen mit sich. Der Raum, in dem wir uns bewegen können, ist ziemlich eingeschränkt.
Zwei Vorteile hat das aber: Erstens duftet es wunderbar und überdeckt damit die Gerüche vom Kuhstall unter uns. Wir können auch in dem neuen Heu großartig liegen. Und zweitens konnten wir wenigstens etwas helfen. Das Heu, das vom Wagen heraufgereicht wurde, haben wir verstaut.
Nach langem Drängen hat uns Elisabeth auch sonst einige Arbeit gegeben. Zum Beispiel ziehen wir oft am Vormittag einen Eimer mit Kartoffeln herauf, die ich dann schäle.
Morgens melkt Ludwig die Kühe unter uns im Stall, ehe er sie auf die Weide bringt. Abends