Erst die Atmosphäre und die bildhaften Eindrücke bei Besuchen in Birkenau und Auschwitz haben mir die Augen geöffnet und schließlich auch mein Herz erreicht. Mir ist wie nie zuvor in meinem Leben bewusst geworden, dass auch ich ein Schuldiggewordener bin. Ratlos und Hilfe suchend habe ich diese Mitschuld in einem Beichtgespräch bekannt.
Denn Deutschland, in dessen Namen friedliche Länder überfallen und besetzt wurden und tausende unschuldiger Bürger jüdischen Glaubens ermordet wurden, ist mein Vaterland, für das ich als Soldat in den letzten Kriegsjahren im Einsatz war.
Ich vermute, dass viele Menschen in sich ein Geheimnis tragen, etwas, worüber sie nicht sprechen wollen. Das kann weit zurück liegen: eine Lüge, ein Betrug, eine Verleumdung, ein Missbrauch, eine Verletzung, ein Treuebruch oder auch ein Fluch, der irgendwann einmal ausgesprochen wurde. So gibt es mancherlei, was mit einer „Decke des Schweigens“ zugedeckt und im Verborgenen, in der Verschwiegenheit versteckt bleiben soll.
Ich wünsche allen, die „Das Schweigen redet“ lesen, Mut und Kraft, den Damm des Nichtredens einzureißen und die „Decke des Schweigens“ wegzuziehen.
Albrecht Fürst zu Castell-Castell
Castell, 2013
Einleitung
Der Buchhandel wird heute ständig mit neuem Stoff über das Dritte Reich versorgt. Das war bis in die Mitte der 1990er Jahre noch anders, als man in den Regalen bestenfalls einige Wälzer über die Architekten des deutschen Faschismus fand. Die zahlreichen, in den letzten Jahren oft von Laien geschriebenen Familien- und Schicksalsberichte aus der NS-Zeit markieren einen Wendepunkt in der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit. Der Einzelne, der sein Augenmerk auf Ereignisse legt, die die eigene Familiengeschichte geprägt haben, besticht durch den geschärften Blick der persönlichen Betroffenheit. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu den Ausführungen von einigen zeitgenössischen Historikern, deren Professionalität sich in der Wahrung des emotionalen Abstands ausdrückt.
Geschichte ist etwas Flüssiges. Man kann ihr keine feste Form aufzwingen. Sie entwickelt sich weiter mit den Ereignissen, die von Generation zu Generation aus neuen Blickwinkeln gesehen werden. Das macht das Ringen um die Deutungshoheit so offen. Bereits Abgehaktes kann plötzlich wieder als offenes Thema im Raum stehen.
In mühsamer Kleinarbeit rekonstruieren Enkel und Urenkel die Biografien ihrer Groß- und Urgroßeltern. Und fast jeden Monat kommen neue Bücher hinzu.
Es scheint, als sei ein Damm des Schweigens gebrochen worden. Das Schweigen beginnt zu reden, immer lauter erhebt es seine Stimme. Und das ist gut so, denn nur dadurch kann ein umfassender Aufarbeitungsprozess in Gang kommen, den diese Welt heute mehr denn je braucht.
Wie kommt es, dass erst jetzt dieser Damm des Schweigens bröckelt? Nun, zum einen sicher, weil die Enkelgeneration viel unbefangener ist, und zum anderen, weil die letzten Zeitzeugen oft erst in weit vorgerücktem Alter bereit sind zu sprechen, wenn sie nämlich realisieren müssen, dass – bedingt durch einen Verfall ihrer Kräfte – die Mauer des Schweigens ihre vermeintliche Schutzfunktion nicht mehr erfüllen kann.
Der KZ-Überlebende Elie Wiesel formuliert es so:
Die Jugend macht den Unterschied aus. Die jungen Leute wollen heute wissen, was damals wirklich geschehen ist, … weil sie sich sagen, dass das die letzte Chance ist, einem Zeitzeugen zuhören zu können. Sie hören mit einer gesunden Neugier, mit ihren Seelen, mit ihren Blicken. Ich spreche sehr gerne mit jungen Leuten und beantworte ihre Fragen. Sie interessieren sich für unsere Erfahrungen, nehmen sie an und zeigen uns ihr Mitgefühl. Das berührt mich. Es ist einfacher, mit den Enkeln zu sprechen als mit den Söhnen.1
Die Generation, die in den letzten Jahren des Dritten Reichs und unmittelbar danach geboren wurde, hat erfahren müssen, wie die Eltern ihren Fragen über die Zeit des Nationalsozialismus auswichen. Im Geschichtsunterricht in den 1960er Jahren haben wir das Thema „Drittes Reich“ durchgearbeitet. Ich bin während meiner Kindheit und Jugend aber keinem einzigen Menschen begegnet, der sich als ehemaliger Nationalsozialist zu erkennen gab. Muss das nicht nachdenklich stimmen angesichts der Tatsache, dass es nur wenige Jahre vorher offiziell keinen gab, der kein Nationalsozialist war?
Durch dieses Schweigen der Eltern hat die Neugierde, die in der ersten Generation noch weitgehend unterdrückt werden konnte, in der zweiten und dritten Generation umso mehr zugenommen. Das Schweigen hat einige der Kinder zur Verzweiflung oder Resignation getrieben, andere in Rebellion und Wut: Keinem aber hat es das Aufklärungsbedürfnis nehmen können. Bei vielen der Kinder und Enkel entwickelte sich diese Wissbegierde zu einem dringenden Bedürfnis, bis sie endlich ihre Wurzeln ausgraben und den Nebelschleier des Schweigens der Vorfahren auflösen konnten. Sie wollten wissen, woher sie kommen und was sie ausmacht. Sie spürten, dass sie an ihr Innerstes herankommen müssen, um sich selbst zu verstehen.
Dieses – aus heutiger Sich selbstverständliche – Recht haben viele Kinder der ersten Generation – die Kinder der Täter und Opfer – nicht wahrnehmen können. Sie wuchsen in einer Wolke des Schweigens auf und bemerkten oft erst im fortgeschrittenen Alter, welche Hypothek ihnen dadurch auferlegt wurde. Je länger sie mit der Aufarbeitung warteten, desto dringlicher meldete sich das Begehren nach Transparenz. Nicht immer heilt die Zeit alle Wunden. Verschwiegenes bleibt in uns wirksam, auch wenn es für lange Zeit verdrängt werden kann.
Claudia Brunner, die Großnichte von Adolf Eichmanns Stellvertreter, der für die Deportation von 130 000 Juden verantwortlich war, bringt den Unterschied der Generationen auf den Punkt:
Je mehr ich zu wissen glaube, umso größer wird das Bedürfnis, noch tiefer einzudringen in dieses dunkle Kapitel, das plötzlich auch meine Familiengeschichte und damit ein Teil meiner eigenen ist … Die Vergangenheit wirft ihre Schatten bis in die Gegenwart, sie wirkt in uns weiter, erst recht, wenn wir versuchen, sie zu verdrängen. … Spätestens beim Thema familiärer Loyalität musste es dann krachen, denn während ich es bisweilen laut herausschreie und meinen Großonkel für seine Taten auch vor anderen laut verurteile – nicht zuletzt, um mich deutlich von seiner Ideologie zu distanzieren –, kommt bei meinem Vater, wie bei vielen der Nachkriegsgeneration, die familiäre Gebundenheit viel stärker ins Spiel, die ihn davor zurückschrecken lässt, deutliche Worte zu finden, sogar mir gegenüber.2
Uwe von Seltmann, dessen Großvater aktiv an der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstandes im Frühjahr 1943 teilnahm, schreibt:
Warum verbringe ich seit drei Jahren meine Zeit mit dem Aufsuchen von Zeitzeugen, mit der Lektüre von Dokumenten und Fachbüchern, warum beschäftige ich mich unaufhörlich mit dem unrühmlichsten Kapitel der deutschen Geschichte, warum rühre ich in diesem unappetitlichen braunen Schlamm und wühle dabei mich selbst und andere auf? Weil ich etwas gutmachen will? Weil ich von den dunklen Seiten in mir selbst ablenken will? Ja, warum gerade ich? ‚Du gehörst zur dritten Generation‘, hat mir meine Tante Ute einmal gesagt, ‚du hast die nötige Distanz.‘ Sie habe mit ihren Nachforschungen aufhören müssen, weil irgendwann der Punkt erreicht war, an dem es ihr – als Tochter – zu naheging. Aber ich als Enkel könne diesen Punkt überschreiten und weiter gehen.3
Die nachgeborenen Generationen suchen nach der Vergangenheit, die sie in sich als Gegenwart spüren. Sie ahnen, dass das vergangene Leben ihrer Eltern mit ihrer gegenwärtigen Befindlichkeit zu tun hat. Sie ahnen, dass sie das Puzzlestück der Vergangenheit dringend zur eigenen Orientierung brauchen, um ihre Herkunft, ihre Gefühlswelt, ihre eigene Identität besser deuten zu können. Um das Schweigen ablegen zu können, müssen sie aus dem Zustand des Unbewussten herauskommen. Sie müssen erfahren, was geschah, und sie müssen erkunden, wer es tat, und sie müssen aufgeklärt werden, warum es getan wurde. Sie verfügen über keine Landkarte dieser gegenwärtigen Vergangenheit. Aber sie wissen, dass die Kenntnis dieser Landkarte für sie enorm wichtig ist. Ohne sie bleibt die Suche nach dem unbekannten