Vorgeschobenes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Familie
Ein oft verwendetes Argument für die eigene Partizipation am Genozid war die Sorge um die eigene Familie. Doch das Auslöschen fremder Familien, die als Rechtfertigung für das Morden herhalten müssen, legt eine enorme Erblast auf die Kinder der Täter.
Renates Vater war während des Krieges Einsatzgruppenleiter eines Erschießungskommandos:
Mein Vater sagte, er hätte es für uns getan. Wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre, hätten sie ihn erschossen, und dann wäre seine Familie hilflos zurückgeblieben. Das fand ich eigentlich das Schlimmste, wenn er sagte: Ich habe es für euch getan. Letztlich sagte er damit: Er habe all diese Leute getötet aus Liebe zu seiner Familie und zu seinen Kindern. Ich sagte ihm: ‚Wenn du nur gesagt hättest, du würdest es nicht tun.‘ Darauf sagte er: ‚Du hättest so gern einen Vater, der das getan hätte und dafür erschossen worden wäre.‘ Ja, vielleicht hätte ich lieber einen solchen Vater.47
Hier sind nur einige Beispiele für die Rechtfertigungen, deren sich die Täter bedienten:
„Ich habe es zum Wohl für die Partei gemacht.“
„Ich habe mein Versprechen gegeben.“
„Keiner kann den Druck ermessen, unter dem wir damals standen.“
„Wir müssen das Versagen unseres Landes von damals im europäischen Kontext sehen.“
„Es haben damals ja alle mitgemacht.“
„Wir hätten die Existenz unserer Familie gefährdet.“
Großer Bogen um die einzige Lösung: Schonungslose Offenheit
Es neigt immer die erste Generation nach dem Ende eines Schreckenssystems dazu, die Geister der Vergangenheit in ihren Gräbern zu lassen. Nur nicht an den vergangenen Verbrechen und Wunden rühren.
Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Täter hat es geschafft, sich schonungslos und ohne Rechtfertigung der eigenen Schuld zu stellen. Nur mit einer solchen Haltung hätten sie Respekt bei ihren Kindern ernten und ihnen damit eine Brücke zur eigenen Lebensfindung bauen können.
Warum scheint es so unüberwindbar schwierig, sich der eigenen Schuld zu stellen? Im Fall des Holocausts liegt die besondere Schwierigkeit nicht im Verzeihen allein, sondern darin, dass die Schuld so „unverzeihlich“ schlimm ist. Eine „unverzeihliche“ Schuld aber kann und darf der Täter sich und anderen nicht eingestehen. Somit ist er weitgehend unfähig, um Verzeihung zu bitten.
Die Tochter des Leiters eines SS-Erschießungskommandos in der Ukraine wartete vergeblich auf einen Ausdruck von Schuldgefühl oder Reue für die Taten ihres Vaters. Ein einziges Wort hätte sie von der Last ihres inneren Gefängnisses befreit:
Ich glaube, es wäre für mich leichter gewesen, wenn mein Vater mir gesagt hätte, was er gemacht hat, wie er darunter gelitten hat und was er daraus gelernt hat. Und das ist eigentlich der wichtigste Punkt: Mein Gefühl, dass er überhaupt nichts gelernt hat, nichts aus seinem persönlichen Schicksal, nichts aus der politischen Entwicklung, nichts aus der Geschichte – überhaupt nichts hat er gelernt. Die Geschichte meines Vaters belastet mich deswegen bis heute noch viel mehr, als ich es bisher geahnt hatte. Ich führe oft innere Dialoge mit meinem Vater, Dialoge, die es ja nie gegeben hat, als er noch gelebt hat. Ich denke, dass er seine Rolle als Familienvater nur aufrechterhalten konnte, indem er seinen Kindern gegenüber sagte, er sei unschuldig und das Urteil sei ein Fehlurteil. Wenn ich nun also mit ihm rede, denke ich manchmal, er würde vielleicht sagen, dass die Schuld, die er empfindet, zu groß ist, um sie uns gegenüber zu gestehen, im Gegensatz zu früher, als ich gedacht habe, dass er gar keine Schuld empfindet. Also in den ‚Gesprächen‘ mit ihm habe ich die Vorstellung: Wenn er die Schuld übernimmt, kann sie auch von mir weggenommen werden. Und ich bin ganz sicher, dass ich ihn damals unterstützt hätte, wenn er mir gegenüber seine Schuld eingestanden und auch sein Mitleid für die Opfer gezeigt hätte. In meinen Phantasiegesprächen bekennt er sich zu der Schuld, vielleicht auch, weil ich hoffe, er würde dann sehen, was er durch sein Verhalten angerichtet hat, dass er mich, meine Geschwister und meine Mutter unglaublich belastet hat.48
Indem der Vater seine Schuld nicht eingestand, wurde sie zur Schuld seiner Tochter.
Fehlgeleitetes Gehorsamsverständnis
Nicht wenige der Täter haben in ihrer Kindheit selbst erlebt, dass Erwachsene willkürlich oder unberechenbar mit ihnen umgegangen sind: Das Ausgeliefertsein ist ihnen insofern nicht fremd. Als Kind mussten sie Gehorsam leisten und bekamen niemals Gelegenheit, diesen zu hinterfragen. Somit konnten sie kein gesundes Verhältnis zum Thema Gehorsam entwickeln.
Kinder lernen im frühen Lebensalter Gehorsam, damit sie zunächst einmal ungefährdet heranwachsen und später zunehmend Selbstbestimmung erlernen können. Ab einem bestimmten Alter aber beginnt eine Fehlentwicklung, wenn man einem Kind nicht die Freiheit zum straflosen Hinterfragen gibt. Wer früh lernt, den Gehorsam über die eigene Person und die eigenen Gefühle zu stellen, kann keine eigene autonome Persönlichkeit entwickeln und schiebt später die Verantwortung für das Böse der übergeordneten Person zu. Menschen, die so erzogen wurden, können perfekt mit dieser delegierten Verantwortung leben. Die Bandbreite der somit erreichten „Schizophrenie“ reicht von der willenlosen Abspaltung der Gefühle bis hin zur pervertierten Gewaltbereitschaft. Vor dem Hintergrund eines gebrochenen Verhältnisses zum Thema „Gehorsam“ und der Abspaltung von Gefühlen vereinigen diese Menschen in sich Gesinnungen, die mit dem gesunden Menschenverstand niemals vereinbar sind.
Hält man sich diese Überlegungen vor Augen, dann waren die Verantwortungsträger im Dritten Reich oft durch ihre so geartete, gespaltene Gefühlswelt für ihr heute so schwer nachvollziehbares Verhalten vorbelastet. Aus nicht hinterfragtem Gehorsam als oberstem Wert praktizierten sie im öffentlichen Leben eine andere Moral als zu Hause, ohne sich dieser Schizophrenie bewusst zu sein. Öffentlich überließ man die Bewertung der Moral der Obrigkeit, der man zu Gehorsam verpflichtet war. Nur im Privaten wurden die Werte ausgelebt, die dem normalen Moralkodex entsprachen. Die Widersprüchlichkeit verdrängte man. Der Gehorsam zum Führer als oberste nicht überbietbare und nicht hinterfragbare Gewissensinstanz bewirkte diese Spaltung, dass Menschen, die im privaten Bereich durchaus moralisch lebten, in ihrer politischen Karriere buchstäblich über Leichen gehen konnten.49
Ein Einfallstor für fehlgeleiteten Gehorsam ist die Minderwertigkeit. Ein Mensch, der sich seines Wertes und seiner Identität nicht sicher ist, ist gefährdet. Minderwertigkeit ist auch immer ein Türöffner für Anmaßung und Selbstüberschätzung. Zur Erhaltung dessen, worauf sie endlich stolz sein zu können vermeinen, sind diese Menschen geneigt, Dinge zu tun, die sie unter normalen Umständen nicht tun würden: Den Gehorsam hinterfragen sie nicht, wenn er ihnen Vorteile bringt. Aus der Minderwertigkeit heraus werden dann Rangordnungen erstellt, die definieren, was der Einzelne wert ist. Der Schritt von der Klassifizierung von Menschen bis zu ihrer Entwürdigung, zur Definition von Herren- und Sklavenrassen, ist klein. Die eigene Minderwertigkeit kann also in eine solche Anmaßung führen, dass in Kategorien von Herren- und Sklavenrassen, von lebenswertem und lebensunwertem Leben, gedacht wird. Es wird bestimmt, welches Leben gefördert und welches eliminiert werden muss, weil es krank, schwach oder fremd sei.
Die Autobiografie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß verdeutlicht, dass es pflichtbewusste, autoritätsgläubige und zum gehorsamen Dienen erzogene Menschen waren, die sich einreden ließen, die Beseitigung von Millionen von Menschen würde einen Dienst an Volk und Vaterland bilden. Höß, ein durchschnittlicher Mensch, nicht bösartig, sondern ordnungsliebend, pflichtbewusst und ausgesprochen moralisch, gibt uns ein Beispiel dafür, dass auch private Integrität nicht vor Inhumanität bewahrt, sondern pervertiert und in den Dienst eines kollektiven Wahnsinns gestellt werden kann, ohne dass der Einzelne der Unmoralität seines Handelns gewahr wird. Gerade hierin besteht der Nährboden für den scheinbar unerklärlichen Fanatismus, mit welchem sich der Mensch, ohne es zu bemerken und ohne dabei dem privaten Moralkodex untreu zu werden,