Didi erläuterte ihm in aller Kürze seine Lage, ohne seine Nachstellungen zu erwähnen, ganz zu schweigen von der misslungenen Blumenaktion.
„So, also einen Rat möchtest du!“, unterbrach Hubert im Stile eines angehenden Eheanbahnungsinstitutsbesitzers endlich die Stille, die nach Didis aufgeregter Rede eingetreten war. „Was ist dir denn der Rat wert?“
Unsicher sah Didi in Huberts Augen, der dem Blick standhielt.
„Möchtest du Geld, Hubert?“
Hubert legte die rechte Innenhand an sein ausladendes Kinn und strich darüber.
„Ja, gute Idee, oder warte. Du hast doch einen neuen Füller, von Pelikan. Hab ich doch bei der Englisch-Arbeit gesehen. Das neueste Modell. Der M150 mit vergoldeter Edelstahlfeder. Mit Tintensichtfenster. Da kenn ich mich aus. Also, ich will dich ja nicht ausnehmen, mit Geld und so. Aber der Füller, der wär nicht schlecht. Hast ja sicher noch den alten!“
Ja, schoss es Didi durch den Kopf, den alten hatte er noch. Aber der kleckerte manchmal und der neue, das war sein Geburtstagsgeschenk. Hatte ihm die Mutter direkt bei Pelikan besorgt, wo ihr Cousin in der Chefetage arbeitete. Sonderpreis und so. Den sollte er abgeben? Aber viel stand auf dem Spiel, alles! Wenn Hubert ihm dafür den todsicheren Tipp gab! Für Ulrike war nichts in der Welt kostbar genug!
„Okay, kannste haben. Dann sag mal an!“
„Erst mal den Füller!“, gab Hubert die Bedingung vor. Bei ihm galt, wie bei Partnerschaftsagenturen, Vorauskasse ohne Anspruch auf Rückzahlung bei Misserfolg.
Nervös kramte Didi den Füller aus seinem Mäppchen hervor und reichte ihn Hubert, der ihn eilig einsteckte. Didis Hände zitterten.
„Na gut, also das läuft so mit den Frauen.“
Hubert holte zu einem umständlichen Exkurs aus, deutete manch gelungene Eroberung an und gab sich wie ein Gunter Sachs oder ein Julio Iglesias auf dem Zenit ihrer Verführungskunst. Ein Charmeur vor dem Herrn, und das mit fünfzehn Jahren. Das jedenfalls legte der gockelhafte Blick in die Ferne nahe, mit denen er die Namen seiner Eroberungen erinnerungstrunken preisgab: Sabine, Linda, Conny, Andrea, jeden Namen mit einem Seufzer versehen, ach, war das schön mit ihr. Die Methode, die er schließlich Didi benannte, um ein Mädchen zu erobern, reichte allerdings nicht an Casanova und seine modernen Nachfahren heran. Nein, sie erwies sich als ausgesprochen schlicht, um nicht zu sagen: primitiv.
„Wo triffst du deinen Schwarm immer?“
„Treffen ist zu viel gesagt“, gab Didi kleinlaut zu, „ich sehe sie halt immer am Bus. Morgens, vor der Schule, und auch am Nachmittag.“
„Ha, stellst ihr wohl nach? Aber egal. Sie geht allein zur Schule? Keine Freundinnen? Und du hast ein Mofa?“
Didi nickte.
„Dann geht das so. Du fährst nicht mit dem Bus in die Schule, sondern mit dem Mofa. Wenn sie den Bus verlässt und zur Schule läuft, fährst du wie zufällig mit dem Mofa seitlich an sie heran.“
Hubert stand auf. Didi sah ihn entsetzt an. Sollte das alles gewesen sein?
„Und dann, was mache ich dann?“, fragte er panisch den Casanova.
„Na, dann ist doch klar, was du machst. Du gehst zum Totalangriff über. Fragst sie: Eh, hallo, willst du mit mir gehen?“
„Wie, so direkt?“
„Na, was denkst du denn! Wer nichts wagt, der gewinnt nicht. Glaub mir, die meisten Weiber sind froh, wenn sie einen abkriegen. Sogar …“, jetzt zögerte er etwas, „sogar einen wie dich.“
„Aber, ich mein, das …“ Didi stammelte nur noch, während Hubert sich entfernte. Der neue Füller war weg. Er hatte keine Ahnung, wie er das seiner Mutter erklären sollte. Und wenn der Vater das erfuhr, setzte es was. Im Hinblick auf Ulrike war er kaum einen Schritt weiter. Sie einfach so anzumachen, mit so einem blöden, frontalen Satz! Darauf wäre er auch von alleine gekommen. Das traute er sich nie! Andererseits: Nichts ging voran. Seit Wochen war er liebeskrank, hatte abgenommen, obwohl sowieso nicht viel an ihm dran war. Kein Appetit, kein Schlaf, in der Schule nur noch schlechte Noten und bei Ulrike kein Millimeter Bewegung nach vorne, nur solche bescheuerten Blumenaktionen mit Totalrückschlägen. Und Hubert war nun mal vom Fach. Ein Flirtprofi. Er musste es wissen.
So wartete er mit springendem Herzen und laufendem Mofamotor etwa dreißig Meter von der Haltestelle entfernt. Ulrike stieg pünktlich aus. Ihre langen, kastanienbraunen Haare wehten im Wind. Langsam fuhr er an. Noch zwanzig Meter. Noch fünfzehn. Ob sie nicht vom plötzlichen Motorengeräusch erschreckt? Das wäre der Supergau. Nein, er schaltete den Motor aus. Sanft rollte er heran, um dann mit leiser Stimme die Frage der Fragen zu stellen. Russisches Roulette. Es gab keine Alternative. Noch zehn Meter. Fünf. Das Mofa glitt lautlos heran. Schon wehten einzelne Haare fast in sein Gesicht. Jetzt, die Wangenknochen, die Augen von der Seite, hatte sie Kontaktlinsen?
„Willst du …“
„Huaaaachhh, Hiiilfeee, uuuaaaaaaah!!!!“
Sie zuckte mit dem ganzen Körper zusammen, drückte sich mit beiden Händen an die Brust, ja ging sogar kurz in die Knie und drohte auf den Asphalt des Fußweges zu stürzen. Mit einem Flackern in den Augen sah sie ihn kurz an. Dann begann sie zu rennen, wie um ihr Leben. Immer schneller, schulwärts. Nichts wie weg von diesem gespenstischen Kerl, der sie da so irrsinnig erschreckt hatte.
Didi schlug mit beiden Fäusten auf das Lenkrad seines Mofas ein, schrie mit undefinierbaren Lauten sein ganzes Elend heraus, nicht ahnend, dass Ulrike, an der Schule angekommen, einen Blick zurückgeworfen hatte und ihn nun so sah. Ein irre zuckender und wild brüllender Junge, der, so vermutete sie, dringend einer psychischen Behandlung bedurfte.
Mit dieser Einschätzung lag sie nicht ganz verkehrt. Didis Noten in der Schule verschlechterten sich nochmals. Am Ende des Schuljahres erfuhren Christel und Erich Dollmann vom Klassenlehrer Weschke, Didis Noten reichten nicht für die Versetzung in die nächste Klasse.
„Wissen Sie denn, was er hat, Frau und Herr Dollmann? Er ist immer so unkonzentriert. Wenn ich nur wüsste, wo er mit seinen Gedanken spazieren geht?“
Mit siebzehn hatte Didi seine erste Freundin, Lisa, die sich ins Kino, in die Eisdiele einladen ließ. Sie war ein Jahr jünger und durfte noch nicht in die Disco. So sagte sie. Strenge Eltern und so. Bei einem Discobesuch auf eigene Faust entdeckte er sie und wusste, warum sie ihn nicht dabeihaben wollte. Sie knutschte mit dem Discjockey wild hinter der Musikanlage. Danach kam Babsi, 18 Jahre, mit großer Brille, vielen Pickeln und ziemlich korpulent. Sie war das Mauerblümchen der Schule. Zum ersten Mal schlief er mit einer Frau oder, besser gesagt, er versuchte es. Aber er war zu nervös, das mit dem Kondom gestaltete sich schwierig, und so blieb ihm nur Petting, die libidinöse Magerkost der Generation Mofa.
Sein Außenseiterdasein in der Schule, seine Misserfolge in der Liebe, die fehlende Nestwärme im Elternhaus, sie stürzten ihn in depressive Phasen. Nach dem mühselig erworbenen Abitur streifte er stundenlang über die Felder um Bruchköbel und um den Schmelz-Weiher, oft mit der Gitarre unter dem Arm. Er improvisierte, dachte über die Zukunft nach. Langsam wandelte sich der Frust in Trotz. Ja, wartet nur ab, ihr alle, die ihr mich so demütigt! Euch allen werde ich es noch zeigen! Jedem von euch! Wartet nur ab!
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