Gott sei Dank, seine Auftritte als Straßenmusiker hatten ihm eine Vielzahl von Presseartikeln beschert. Diese Berühmtheit ermöglichte ihm die Eintragung eines Künstlernamens in den Pass. „Wolle Luther“, das war der Name, der sein altes Leben, das des Wolle auf dem Campingplatz, und das neue, das des wieder lebendigen und nicht nur hoch auf dem Sockel fern von den Menschen thronenden und um 500 Jahre veraltet wirkenden Reformators, symbolisierte. Noch am selben Tag hatte er einen Account bei Facebook als Wolle Luther eröffnet und dort erste Gleichgesinnte gefunden. Er freundete sich in Weimar mit Bewohnern der besetzten Häuser in der Gerberstraße an. Die Lektüre von Büchern über die Nazizeit fesselte ihn und er diskutierte nächtelang mit seinen jungen Freunden, wie das alles passiert war. Im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald offerierte er bald Führungen für Jugendgruppen, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Luthers mehr als problematische Haltung zu den Juden. Die Bewegung hin zu einer neuen Kirche, nah dran an den Menschen, gerade auch den jungen, hin zu einer Kirche, die offen mit ihrer Geschichte umgeht und in der die Emotionen ein Zuhause finden, sie nahm ihren Anfang. Doch sollte sie jetzt im Einsammeln von Cocktailgläsern enden?
„ICH hätte da noch was in der Abteilung Animation“, hörte er wie durch einen dünnen Vorhang den Leblosen sprechen. Ein Hubschrauber des ADAC zog brüllend über den Waldkamm. Animation, Motivation, Begeisterung, darum ging es, wenn heute die Rede von der höheren Macht die Menschen erreichen sollte. Wie fern war die Kirche seiner Tage den Menschen! Wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten wirkte sie! Mit ihrer, den meisten unvertrauten Liturgie! Mit ihren vorformulierten und brav abgelesenen Gebeten! Mit ihren immer nur den Tod thematisierenden Liedtexten und Glaubensformeln! Wo war der lebendige Mann aus Nazareth, wo der Hinweiser auf die überirdischen Dinge, wo waren die heutigen Glaubenserfahrungen? Sollte die höhere Macht vor zweitausend Jahren ihr Reden zu den Menschen eingestellt haben? Wenn nicht, wo waren dann die heutigen Begegnungen mit der anderen Wirklichkeit dokumentiert? Wo fanden sie ihren Raum? Etwa bei den sogenannten Freikirchen, bei denen er einmal an einem Gottesdienst teilgenommen hatte? Dort legten sie „Zeugnis“ ab, berichteten, wie die höhere Macht ihr Leben prägt. Aber das Ganze wirkte so gezwungen, so künstlich, das war keine Herzenssprache. Gotteszwang herrschte, und die Bibel galt da Wort für Wort, trotz aller Widersprüche und gegen allen Verstand. Er empfand das als eine Beleidigung der höheren Macht, ihr ihre Widersprüchlichkeit zu nehmen. Sie gegen allen Verstand glauben zu wollen. Sie künstlich zu harmonisieren als eine liebe Tante, die immer nur, heidschibumbeidschi, lieb ist, ach, ich bin ja so wunderbar erlöst. Dazu das Herabsehen auf die anderen Christen, die an der höheren Macht zweifeln, ja, verzweifeln. Nein, diese arrogante Truppe der Halleluja-Jubler war nichts für ihn. Wo aber dann sollte er mit seinem Anliegen andocken?
„Hallo, Herr Luther, jetzt kommt gleich der Herr Rausch dran. Entscheiden Sie sich!“
„Ähm, wofür?“
„Na, ob Sie nun als Barassistent oder als Animationsassistent anheuern!“
Man merkte dem Leblosen die Ungeduld an. Wolle war nicht fähig, sich zu entscheiden. Aber war es nicht auch wirklich schwierig? Sagte er zu, war er für Wochen auf einem Schiff gefangen. Was, wenn er seekrank wurde? Was, wenn er seine Aufgabe nicht umsetzen konnte, Luthers Denken, seine seelsorgerische Kompetenz für die Sehnsüchte der Menschen in unsere Zeit zu verpflanzen? Der Religion, dem Leben mit der anderen Wirklichkeit wieder eine Chance zu geben? Auch gerade fernab der kirchlichen Strukturen, die der Beziehung zur höheren Macht oft mehr im Weg standen als sie zu befördern? War da so ein Schiff eine gute Möglichkeit? Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön, das war doch mit dem Vertrauen auf die höhere Macht genauso. Lustig und schön war auch das Leben, wie sie es schenkt. Freunde, Feste, gutes Essen, das Meer, Cocktails, Verliebtsein, Sex, alles von der höheren Macht gegeben. Oder von wem sonst? Die Beziehung zu ihr, warum war sie so eingeengt auf Leid und Tod?
Es klopfte an der Tür und eine Nase mit Pickel linste um die Ecke.
„Isset nu so weit, Meester?“
„Augenblick noch, ICH rufe Sie, wenn Sie dran sind!“
Campingplatz oder Meer, das waren die beiden Optionen, die sich für Wolle stellten. Wenngleich der Campingplatz keine wirkliche Variante war. Rosemarie, seine gute Rosemarie hatte ihn seit Monaten nicht mehr kontaktiert. Wie aber auch hätte sie das tun sollen? Er war ja unter die Schar der Wohnsitzlosen gegangen. Sicher hatte sie sich inzwischen mit seinem Fernbleiben arrangiert. Einmal, da hatte er sich still und heimlich in der Abenddämmerung an den Campingplatz herangepirscht. Rosemarie ließ sich auf der Terrasse nieder, sichtbar erschöpft von der Arbeit des Tages. Ihr gegenüber saß, einen Salatteller verspeisend, ein Herr mit gezwirbeltem Schnauzbart und edlem Cowboyhut. Zärtlich legte er seine altersfleckige Hand auf ihren fleischigen Unterarm. Ob das ihr neuer Lebensgefährte war? Er, Wolle, hatte sich in der Dunkelheit davongestohlen, den Schritt an der 500 Jahre alten Eiche beschleunigend, die sein Leben gewendet hatte.
„Ich mache das mit dem Animationsassistenten!“, sagte er bestimmt zum Sachbearbeiter.
„Na endlich. Warum nicht gleich so!“
Der Leblose tippte einige Daten in den Computer, druckte dann ein Formular in mehrfacher Ausfertigung aus und legte es dem Arbeitsuchenden zum Unterschreiben vor. Als Wolle wankend den Raum verlassen hatte und ein Herr namens Rainer Rausch, der sich selbst Rauschi nannte, eingetreten war, sah Heinz Schmidt irritiert auf die Sätze, die Wolle unter eine seiner Unterschriften gesetzt hatte:
„Über allen Gipfeln
Ist Krach.
In allen Wipfeln
Ist von Ruh
Kein Hauch.
Die Vögelein streiten im Walde.
Warte nur, balde,
bist im Stress du auch.“
III
Als Kind kannte Didi das Gefühl, besser nicht geboren zu sein. Auch wenn er ihr einziges Kind war, hatten seine Eltern eigentlich keine Zeit für ihn. Sein Vater, Erich Dollmann, betrieb einen Ein-Mann-Sanitärbetrieb in Bruchköbel, einer hessischen Kleinstadt. Die Aufträge, die er bekam, waren mehr als bescheiden. Hier mal ein verstopftes Abflussrohr bei einer alten Witwe, da mal ein tropfender Wasserhahn, das war zum Leben zu wenig. Ein paar Mal hatte er versucht, bei größeren öffentlichen Aufträgen mitzuhalten. Die neuen Sanitäranlagen der städtischen Grundschule, die Gemeinschaftsdusche in der Kreis-Sporthalle. Er plante, Arbeitskräfte zumindest befristet einzustellen, um den Auftrag auszuführen. Didi saß im Peugeot-Lieferwagen, wenn der Vater zur Gebotseröffnung in die Stadtverwaltung oder ins Landratsamt fuhr. Er wartete im Auto und sah schon am schleppenden Gang des Vaters, dass es wieder mal nicht geklappt hatte. Auf der Rückfahrt war der Vater einsilbig, murmelte etwas von illegalen Absprachen und griff zu Hause immer häufiger zur Cognacflasche. Das waren die Augenblicke, in denen Didi höchst wachsam sein musste. Mehr als einmal hatte der Vater den ersten Anlass genutzt, um seinen Frust an ihm abzureagieren. Nicht nur mit Worten. Auch die Hand rutschte ihm das ein oder andere Mal aus, wie er euphemistisch die Tracht Prügel beschrieb, die er dem Sohn verabreichte. Aus schlechtem Gewissen heraus nahm er ihn dann am nächsten Tag mit zu einem Auftrag, gab ihm einen Groschen für das Halten des Rohres oder das Tragen der Wasserpumpenzange und erlaubte ihm, für ihn die Knöpfe des Spielautomaten in den Kneipen zu drücken, die sie auf der Heimfahrt aufsuchten und in denen Vater Erich nicht nur ein Pils trank. Obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten konnten, fuhr der Vater mit Didi einige Jahre im Sommer für ein, zwei Wochen zu einem Bauernhof in der Nähe des oberbayerischen Wolfratshausen. Der Vater half dem Bauern, einem entfernten Verwandten, gegen freie Kost und Logis bei der Ernte, während Didi an der Isar entlangzog, ohne wirklichen Kontakt zu den Kindern des Ortes zu finden. Am Abend pichelte der Vater mit dem Bauern selbstgebrannten