Ein Sehgefühl ließ sich ebenso leicht mit vier verschiedenen Methoden unter Verwendung derselben Ein-Volt-Batterie auslösen: durch Anbringen des silbernen „Ankers“ auf einem angefeuchteten Augenlid und dem aus Zink auf dem anderen; oder einer in einem Nasenloch und der andere auf einem Auge; oder einer auf der Zunge und einer auf dem Auge; oder sogar einer auf der Zunge und einer gegen das obere Zahnfleisch. In dem Moment, in dem sich die beiden Metalle berührten, sah Humboldt jedes Mal einen Lichtblitz. Wenn er das Experiment zu oft wiederholte, entzündeten sich seine Augen.
In Italien gelang es Volta, dem Erfinder der elektrischen Batterie, ein Klanggefühl hervorzurufen. Dazu verwendete er nicht ein einziges Metallpaar, sondern 30, die an Elektroden in jedem Ohr angebracht wurden. Bei den Metallen, die er ursprünglich in seinem „Stapel“ verwendete und bei denen Wasser als Elektrolyt benutzt wurde, handelte es sich möglicherweise um eine Batterie von ca. 20 Volt. Volta hörte nur ein Knistern. Das hätte aber auch durch eine mechanische Wirkung auf seine Mittelohrknochen hervorgerufen werden können. Daraufhin wiederholte er das Experiment nicht mehr, weil er befürchtete, dass der Schock für sein Gehirn gefährlich sein könnte.4 Wie wir in Kapitel 15 sehen werden, blieb es dem deutschen Arzt Rudolf Brenner 70 Jahre später überlassen, mit verfeinerten Geräten und kleineren Stromstärken die tatsächlichen Auswirkungen auf den Hörnerv zu demonstrieren.
Den Herzschlag beschleunigen und verlangsamen
In Deutschland richtete Humboldt währenddessen seine Aufmerksamkeit auf das Herz. Dafür verwendete er wieder dieselben Einzelstücke aus Zink und Silber. Zusammen mit seinem älteren Bruder Wilhelm und unter Aufsicht renommierter Physiologen entfernte Humboldt einem Fuchs das Herz. Dann bereitete er eine der Nervenfasern vor, damit die Anker darauf angebracht werden konnten, ohne das Herz selbst zu berühren. „Bei jedem Kontakt mit den Metallen änderten sich die Pulsationen des Herzens deutlich. Ihre Geschwindigkeit, vor allem aber ihre Intensität und ihre Höhe wurden gesteigert“, notierte er.
Danach experimentierten die Brüder mit Fröschen, Eidechsen und Kröten. Wenn das sezierte Herz 21 Mal pro Minute schlug, so waren es nach der Galvanisierung 38 bis 42 Mal pro Minute. Wenn das Herz fünf Minuten lang aufgehört hatte zu schlagen, startete es sofort wieder, sobald es mit den beiden Metallen in Kontakt gebracht wurde.
Zusammen mit einem Freund in Leipzig stimulierte Humboldt das Herz eines Karpfens, das fast aufgehört hatte zu schlagen und nur alle vier Minuten noch einmal pulsierte. Während eine Herzmassage erfolglos blieb, stellte die Galvanisierung die Frequenz wieder auf 35 Schläge pro Minute her. Die zwei Freunde stimulierten das Herz wiederholt mit einem einzigen Paar unterschiedlicher Metalle und es gelang ihnen, es fast eine Viertelstunde lang weiterschlagen zu lassen.
Bei einer anderen Gelegenheit gelang es Humboldt sogar, einen sterbenden Hänfling wiederzubeleben. Der Vogel lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und reagierte nicht einmal auf einen Nadelstich. „Ich beeilte mich, ein kleines Stückchen Zink in seinen Schnabel und ein kleines Stück Silber in sein Rektum zu schieben“, schrieb er, „und stellte sofort mit einem Eisenstab eine Verbindung zwischen den beiden Metallen her. Ich konnte es kaum glauben, als der Vogel zum Zeitpunkt des Kontakts die Augen öffnete, sich auf die Füße stellte und mit den Flügeln schlug. Er atmete noch einmal sechs oder acht Minuten lang und starb dann ruhig.“5
Niemand hat je bewiesen, dass eine Ein-Volt-Batterie ein menschliches Herz wieder zum Schlagen bringen kann, aber Dutzende von Beobachtern vor Humboldt berichteten, dass Elektrizität die menschliche Pulsfrequenz erhöht. Dieses Wissen besitzen die heutigen Ärzte nicht mehr. Die deutschen Ärzte Christian Gottlieb Kratzenstein6 und Carl Abraham Gerhard,7 der deutsche Physiker Celestin Steiglehner,8 der Schweizer Physiker Jean Jallabert,9 die französischen Ärzte François Boissier de Sauvages de la Croix,10 Pierre Mauduyt de la Varenne11 und Jean-Baptiste Bonnefoy,12 der französische Physiker Joseph Sigaud de la Fond13 und die italienischen Ärzte Eusebio Sguario14 und Giovan Giuseppi Veratti15 waren nur einige der Beobachter, die berichteten, dass ein elektrisches Bad die Pulsfrequenz bei Verwendung von positiver Elektrizität um fünf bis 30 Schläge pro Minute erhöhte. Negative Elektrizität hatte den gegenteiligen Effekt. 1785 führte der niederländische Apotheker Willem van Barneveld 169 Studien mit 43 seiner Patienten durch. Die Probanden waren Männer, Frauen und Kinder im Alter von neun bis 60 Jahren. Bei einem Bad mit positiver Elektrizität konnte man durchschnittlich eine Erhöhung der Pulsfrequenz um fünf Prozent feststellen. Wurde die Person stattdessen in negativer Elektrizität gebadet, ergab sich eine Senkung der Pulsfrequenz um drei Prozent.16 Wenn positive Funken erzeugt wurden, erhöhte sich der Puls um 20 Prozent.
Dies waren jedoch nur Durchschnittswerte: Keine zwei Personen reagierten in der gleichen Weise auf Elektrizität. Während der Puls einer Person stets von 60 auf 90 Schläge pro Minute anstieg, verdoppelte er sich bei einer anderen immer; bei manchen schlug er viel langsamer und wieder andere reagierten überhaupt nicht. Bei einigen von van Barnevelds Versuchspersonen war die Reaktion sogar genau das Gegenteil von der der Mehrheit: Eine negative Ladung beschleunigte immer ihren Puls, während eine positive Ladung ihn verlangsamte.
„Istupidimento“
Solche Beobachtungen tauchten jetzt in schneller Abfolge und in großer Zahl auf. Dadurch wurde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein grundlegendes Wissen über die Auswirkungen des elektrischen Fluidums – normalerweise der positiven Sorte – auf den menschlichen Körper aufgebaut. Wie wir gesehen haben, erhöhte sie sowohl die Pulsfrequenz als auch die Stärke des Pulses. Sie vermehrte alle Sekretionen des Körpers. Elektrizität verursachte Speichelfluss, ließ Tränen fließen und Schweiß rinnen. Sie verursachte die Sekretion von Ohrenschmalz und Nasenschleim. Sie ließ die Magensäfte fließen und stimulierte den Appetit. Sie konnte den Milchflussreflex sowie die Menstruationsblutung auslösen. Sie verursachte ein verstärktes Urinieren bei Menschen und regte die Darmentleerung an.
Für die Elektrotherapie waren die meisten dieser Vorgänge nützlich und würden dies auch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bleiben. Andere Wirkungen waren jedoch völlig unerwünscht. Die Elektrifizierung verursachte fast immer ein Schwindelgefühl und manchmal eine Art geistige Verwirrung oder „istupidimento“, wie die Italiener es nannten.17 Sie erzeugte häufig Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwäche, Müdigkeit und Herzklopfen. Manchmal verursachte sie Kurzatmigkeit, Husten oder asthmaähnliches Keuchen. Sie löste auch öfters Muskel- und Gelenkschmerzen und mitunter psychische Depressionen aus. Obwohl Elektrizität normalerweise dazu führte, dass sich der Darm – oft mit Durchfall verbunden – entleerte, konnte eine wiederholte Elektrifizierung zu Verstopfung führen.
Elektrizität verursachte sowohl Schläfrigkeit als auch Schlaflosigkeit.
Humboldt stellte in Experimenten an sich selbst fest, dass Elektrizität den Blutfluss aus Wunden erhöhte und verstärkt zur Entleerung von Blasenflüssigkeit führte.18 Gerhard teilte ein Pfund frisch entnommenes Blut in zwei gleiche Teile, stellte diese nebeneinander und elektrifizierte einen davon. Die Gerinnung des elektrifizierten Bluts dauerte länger.19 Antoine Thillaye-Platel, Apotheker im Hôtel-Dieu, dem berühmten Krankenhaus in Paris, bestätigte, dass Elektrizität bei Blutungen kontraindiziert sei.20 Zahlreiche Berichte über Nasenbluten durch Elektrifizierung decken sich mit diesen Beobachtungen. Winkler und seine Frau bekamen, wie bereits erwähnt, Nasenbluten durch den Stromschlag einer Leidener Flasche. Der schottische Arzt und Anatom Alexander Monro ist für die Entdeckung der Funktion des Lymphsystems bekannt. In den 1790er-Jahren bekam er Nasenbluten durch eine einzige Ein-Volt-Batterie, wann immer er versuchte, ein Empfinden von Licht in seinen Augen hervorzurufen. „Dr. Monro war vom Galvanismus so angeregt, dass er aus der Nase blutete, als er das Zinkstück sehr sanft in seine Nasenhöhlen einführte und es mit einem auf seine Zunge aufgebrachten Anker in Kontakt brachte. Die Blutung fand immer in dem Moment statt, in dem die Lichter auftauchten.“ So berichtete Humboldt.21 In den frühen 1800er-Jahren beobachtete Conrad