Das Erlebnis gewann zunehmend an Popularität. Bald beklagte sich die Öffentlichkeit darüber, dass der Reiz eines Stromschlags immer mit Schlangestehen oder einer Arztkonsultation verbunden war. Der Bedarf nach tragbaren Geräten wurde geweckt, die jeder zu einem vernünftigen Preis kaufen und nach Belieben genießen konnte. Und so wurde die „Ingenhousz-Flasche“ erfunden. In einem elegant aussehenden Etui befand sich eine kleine Leidener Flasche, die mit einem lackierten Seidenband und einer Kaninchenhaut verbunden war, mit der der Lack gerieben und die Flasche aufgeladen werden konnte.4
Elektrische Gehstöcke wurden zu einem erschwinglichen Preis „für jeden Geldbeutel“5 verkauft. Dabei handelte es sich um Leidener Flaschen, die geschickt als Spazierstöcke getarnt waren. Man konnte sie heimlich aufladen und ahnungslose Freunde und Bekannte zum Berühren derselben verführen.
Dann gab es den „elektrischen Kuss“, ein Freizeitvergnügen, das sogar der Erfindung der Leidener Flasche vorausging, danach aber viel aufregender wurde. Der Physiologe Albrecht von Haller an der Universität Göttingen erklärte ungläubig, dass solche Gesellschaftsspiele „die Quadrille ersetzt haben“ (Anm. d. Verlags: zur damaligen Zeit ein beliebter Tanz in Frankreich). „Ist es zu glauben“, schrieb er, „dass der Finger einer Dame, ihr Fischbein-Petticoat, wahre Blitzstrahle aussenden und so charmante Lippen ein Haus in Brand setzen könnten?“
Sie war ein „Engel“, schrieb der deutsche Physiker Georg Matthias Bose, mit „weißem Schwanenhals“ und „blutgekrönten Brüsten“, der „Ihr Herz mit einem einzigen Blick stiehlt“, dem Sie sich aber auf eigene Gefahr nähern. Er nannte sie „Venus Electrificata“ in einem Gedicht, das in Latein, Französisch und Deutsch veröffentlicht und in ganz Europa berühmt wurde:
Wenn ein Sterblicher nur ihre Hand berührt,
Von solch einem göttlichen Kind sogar nur ihr Kleid,
Brennen die Funken doch genauso durch alle Glieder.
So schmerzhaft es auch ist, begehrt er es erneut.
Sogar Benjamin Franklin fühlte sich gezwungen, Anweisungen zu geben: „A und B sollen auf Wachs stehen; oder A auf Wachs und B auf dem Boden; geben Sie einem von ihnen die elektrifizierte Phiole in die Hand, der andere soll den Draht ergreifen; es wird einen kleinen Funken geben; aber wenn sich ihre Lippen nähern, fühlen sie den Stromschlag und werden geschockt.“6
Wohlhabende Damen veranstalteten solche Formen der Unterhaltung in ihren Häusern. Sie beauftragten Instrumentenbauer, große, kunstvolle elektrische Maschinen herzustellen, die sie wie Klaviere zur Schau stellten. Personen mit bescheideneren Mitteln kauften Standardmodelle, die in verschiedenen Größen, Stilen und Preisen erhältlich waren.
Liniengravur ca. 1750, reproduziert in Jürgen Teichmann, Vom Bernstein zum Elektron, Deutsches Museum 1982
Abgesehen vom Unterhaltungswert wurde Elektrizität – von der angenommen wurde, dass sie mit der Lebenskraft zusammenhänge oder mit dieser identisch sei – hauptsächlich wegen ihrer medizinischen Wirkungen verwendet. Sowohl elektrische Maschinen als auch Leidener Flaschen fanden ihren Weg in Krankenhäuser und in die Praxen von Ärzten, die mit der Zeit Schritt halten wollten. Eine noch größere Anzahl von „Elektrikern“, die nicht medizinisch ausgebildet waren, richteten eine Praxis zur Behandlung von Patienten ein. Quellen zufolge wurde medizinische Elektrizität in den 1740er- und 1750er-Jahren von Praktizierenden in Paris, Montpellier, Genf, Venedig, Turin, Bologna, Leipzig, London, Dorchester, Edinburgh, Shrewsbury, Worcester, Newcastle-upon-Tyne, Uppsala, Stockholm, Riga, Wien, Böhmen und Den Haag verwendet.
Der berühmte französische Revolutionär und Arzt Jean-Paul Marat, ebenfalls ein Elektropraktiker, schrieb darüber ein Buch mit dem Titel Mémoire sur l’électricité médicale.
Franklin behandelte Patienten in Philadelphia mit Elektrizität – und zwar so viele, dass Behandlungen mit statischer Elektrizität später im neunzehnten Jahrhundert unter dem Begriff „Franklinisierung“ bekannt wurden.
John Wesley, der Gründer der Methodistenkirche, veröffentlichte 1759 eine 72-seitige Abhandlung mit dem Titel Desideratum; or, Electricity Made Plain and Useful. Er nannte die Elektrizität „die edelste Medizin, die bisher auf der Welt bekannt ist“, die bei Erkrankungen des Nervensystems, der Haut, des Blutes, der Atemwege und der Nieren eingesetzt werden sollte. „Eine Person, die auf dem Boden steht“, fühlte er sich verpflichtet hinzuzufügen, „kann eine elektrifizierte Person, die auf dem Harz steht, nicht ohne Weiteres küssen.“7 Wesley selbst elektrisierte Tausende von Menschen im Hauptquartier der methodistischen Bewegung und an anderen Orten in London.
Und es waren nicht nur Prominente, die damit ein Geschäft eröffneten. So viele nichtmedizinische Menschen kauften und mieteten Maschinen für medizinische Zwecke, dass der Londoner Arzt James Graham im Jahr 1779 schrieb: „Ich zittere vor Sorge um meine Mitmenschen, wenn ich in fast jeder Straße dieser großen Metropole einen Friseur, einen Chirurgen, einen Zähnezieher, einen Apotheker oder einen gewöhnlichen Mechaniker sehe, dessen Fachgebiet jetzt auch die Elektrizität einschließt.“8
Da Elektrizität Kontraktionen der Gebärmutter auslösen konnte, wurde sie stillschweigend als Abtreibungsmethode verstanden. Francis Lowndes war zum Beispiel ein Londoner Elektropraktiker mit einer umfangreichen Praxis, der damit Werbung machte, mittellose Frauen kostenlos „wegen Amenorrhö“ zu behandeln.9
Sogar Landwirte fingen an, die Wirkung von Elektrizität auf ihre Ernte zu testen und sie als Mittel zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion vorzuschlagen, wie wir in Kapitel 6 sehen werden.
Die Anwendung von Elektrizität auf Lebewesen im 18. Jahrhundert war in Europa und Amerika so weit verbreitet, dass eine Fülle wertvoller Erkenntnisse über ihre Auswirkungen auf Menschen, Pflanzen und Tiere gesammelt wurde. Dieses Wissen ist völlig in Vergessenheit geraten, obgleich es weitaus umfangreicher und ausführlicher ist als das, was den Ärzten von heute darüber bekannt ist. Sie sehen zwar tagtäglich die Auswirkungen auf ihre Patienten, verstehen jedoch die Ursachen dafür nicht. Sie sind sich noch nicht einmal bewusst, dass dieses Wissen überhaupt existierte. Die Informationen hierüber sind sowohl formell als auch informell – Briefe von Personen, die ihre Erfahrungen beschreiben, Berichte in Zeitungen und Zeitschriften, medizinische Bücher und Abhandlungen, Vorträge auf Treffen wissenschaftlicher Gesellschaften und Artikel, die in neu gegründeten wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.
Bereits in den 1740er-Jahren bezogen sich zehn Prozent aller in den Philosophical Transactions veröffentlichten Artikel auf Elektrizität. Und während des letzten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts hatten gut 70 Prozent aller Artikel über Elektrizität in der renommierten lateinischen Zeitschrift Commentarii de rebus in scientis naturali et medicina gestis mit ihrer medizinischen Verwendung und ihren Auswirkungen auf Tiere und Menschen zu tun.10
Trotz aller möglicher Bedenken: Die Schleusen standen weit offen und die Flut der Begeisterung für Elektrizität strömte ungehindert weiter – und sollte dies auch in den kommenden Jahrhunderten tun. Dabei fegte man kurzerhand alle Vorbehalte zur Seite und machte aus Gefahrenschildern sprichwörtlich Kleinholz. So wurden ganze Wissensgebiete zerstört und auf bloße Fußnoten in der Geschichte der Erfindung reduziert.
KAPITEL 2
Gehörlose werden hören und Gelähmte werden gehen
Ein birmanischer Elefant hat die gleichen Gene, egal ob er in einem Holzfällerlager schwere Arbeit leistet oder in freier Wildbahn lebt. Seine DNS gibt uns keine Auskunft über seine Lebensbedingungen. Ebenso sagen Elektronen nichts über die wohl interessantesten Aspekte der Elektrizität aus. Wir haben die Elektrizität – genauso wie Elefanten – dazu benutzt, unsere Lasten zu tragen und große Ladungen zu befördern. Und während wir Elefanten in Gefangenschaft hielten,