Als John Davis an jenem feucht-kalten Septembermorgen aus der Tür seiner Unterkunft trat, gähnte und mit tief in die Stirn gezogener Schiebermütze die Treppenstufen herabstieg, war die Dunkelheit, die ihn umgab, fast undurchdringlich. Die wenigen Straßenlaternen vermochten den schmalen Hof hinter dem Haus nicht wirklich zu erhellen. Der betagte Dienstmann hatte schlecht geschlafen. Während er mit hochgeschlagenem Mantelkragen müde und fröstelnd einen Fuß vor den anderen setzte, spürte er, dass an diesem Morgen etwas nicht stimmte. Die menschliche Art hat sich genug Instinkte bewahrt, um die Anwesenheit von Bösem zu spüren. Irgendetwas in seinem Inneren flüsterte Davis zu, sich in Acht zu nehmen. Aber wovor? Obschon es zu jeder Tages- und Nachtzeit im ganzen East End nach Schlachthaus und Kanalisation stank, glaubte er, noch einen anderen Geruch wahrzunehmen, der ihm Angst einjagte, da er von einem verletzten Tier oder einem Menschen herrühren musste: den Gestank von Blut und Exkrementen. Mit geballten Fäusten näherte er sich vorsichtig der Quelle dieses Geruchs. Der jähe Anblick einer verstümmelten Frauenleiche, die mit gebrochenen Augen vor ihm erschien, raubte ihm den Atem. Schockiert starrte er auf sie herab, wie sie mit gespreizten Beinen einer Gebärenden gleich auf den Steinplatten lag, den linken Arm auf der linken Brust. »Hilfe!«, krächzte er tonlos. »Mord …« Von Übelkeit überwältigt sackte der alte Davis in die Knie und übergab sich.
Die Gestalt stellte den Krug mit dem heißen, gebutterten Bier ab, mit dem sie sich nach der langen, aufreibenden Nacht stärkte. Die Standuhr schlug sechs Mal hintereinander, als sie im Kerzenschein den blutigen Uterus von Annie Chapman vor sich auf dem Tisch betrachtete. Die Gestalt wischte sich über den Mund und lachte leise. Genauso wie ihr erstes Opfer Mary Nichols war Dark Annie völlig arglos gewesen, sodass es ein Leichtes war, sie zu überrumpeln und zu töten. Inspektor Frederick Abberline und sein Haufen dummer Polizisten tappten noch immer wie Idioten im Dunkeln. Die Gestalt war sich gewiss, dass die Polizei sie nicht verdächtigen würde, denn wer käme schon auf die Idee, dass eine Hebamme Huren ermordete. Wer erregte weniger Aufmerksamkeit als eine Geburtshelferin, wenn sie sich in den frühen Morgenstunden mit ihrem Koffer auf den Straßen von Whitechapel bewegte und ohnehin von oben bis unten mit Blut bedeckt war?
Auf ihrer Todesliste standen noch folgende Namen: Elizabeth Stride. Catharine Eddowes. Mary Jane Kelly. Nach deren Ermordung wäre ihre Mission hier erledigt und sie würde sich nach Amerika absetzen, denn auch dort gab es gewiss einen Bedarf an Hebammen. Seitdem sie ihr Mann − ein bedeutender Arzt in London − wegen ihrer Unfruchtbarkeit verlassen hatte, musste sie selbst für ihren Unterhalt sorgen. Alle Huren, die von ihr heimgesucht wurden, hatten einst ihre Kinder im Mutterleib abgetrieben. Ihr selbst hatte jedes Mal das Herz gestockt, wenn ihr Mann einen Fötus, der friedlich in der Gebärmutter schlummerte, die ihn eigentlich schützen sollte, in Stücke schnitt. Ungeborene Kinder, und − obschon von Hurenböcken gezeugt − unschuldige, winzige Menschlein, wie sie stets selbst eines ersehnt hatte. Und die Straßendirnen, die ihren Gatten nicht bezahlen konnten, hatten ihm stattdessen ihre Liebesdienste offeriert. Nachdem sie ihrem Mann mehrmals nachts hinterherspioniert hatte, musste sie verbittert feststellen, dass er diese Art der Bezahlung durchaus akzeptierte.
Als sie zum ersten Mal mordete, musste sie immerfort an die zerstückelten Föten denken, und aus Wut darüber hatte sie deren Mütter nach ihrer Tötung entstellt. Bald, dachte sie, würde sie Inspektor Abberline ein bisschen an der Nase herumführen und ihm eine halbe Niere ihres nächsten Opfers schicken, zusammen mit einem Bekennerschreiben, das sie mit Jack the Ripper signieren würde.
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