Der Engel, der seine Flügel verbrannte. Markus Saxer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Saxer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Публицистика: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783961450831
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Statue, einem Lehmbild. Die äußere Schicht seines Gesichts bröckelte ab und ein Ton von fahlem Gelb kam zum Vorschein, der sich langsam in Staub auflöste.

      Da war das Gleichgewicht der Welt wiederhergestellt, und der Erzengel verließ die Kammer und schwang sich in die Sphäre des oberen Himmels empor, des feurigen, der aus Licht ist.

       Gefährliche Erbschaft

      Deborah Lehmanns Schritte mäanderten über die Marmorfliesen des riesigen Wohnzimmers, über welche die Sonne ihre Strahlen breitete. Sie frohlockte innerlich, als ihr erneut klar wurde, dass diese Villa bald ihr gehören würde, konnte ihr Glück kaum fassen. Ihr verstorbener Onkel Thaddäus − Abkömmling eines alten europäischen Geldadels − hatte ihr die Liegenschaft mit einer absonderlichen im Testament verfügten Auflage vererbt: Deborah durfte den Prunkbau mit der Säulenveranda in den ersten beiden Tagen unter gar keinen Umständen verlassen, egal was geschehen würde. Erst danach würde die Villa in ihr Eigentum übergehen. Was war vom letzten Willen des exzentrischen Onkels zu halten? Dies ging Deborah immer wieder durch den Kopf, doch sie kam nicht dahinter und fand keine plausible Erklärung dafür. Ihr Onkel hatte allein in völliger Abgeschiedenheit gelebt und sein Leben, wie man hörte, geheimen Forschungsprojekten und alchemistischen Experimenten geweiht. Mit seiner Affinität zum Okkulten galt er allgemein als Phantast und Sonderling, dem stets etwas Diabolisches anhaftete: Die Diabolik eines gleichsam verschrobenen, aber nicht bösartigen Prince of Darkness mit Gothic-Habitus.

      Deborah hatte ihn nur selten gesehen und stand ihm nie besonders nahe − desto erstaunlicher, dass er sie nun mit diesem fürstlichen Erbe bedachte.

      »Wir haben Ihnen den Kühlschrank gefüllt, Frau Lehmann«, verkündete die Nachlassverwalterin Helene Thalbach, eine stattliche, vorzeitig ergraute Dame. »Sie brauchen in den nächsten Tagen bestimmt nicht zu hungern.«

      »Sehr aufmerksam. Danke, Frau Thalbach.« Deborahs Blicke schweiften über die mit weißen Laken bedeckten Möbel, die nicht aussahen wie Sofas, Schränke oder Tische, sondern eher wie ungestalte Tote unter Leichentüchern. Lebendig wirkte einzig der imposante Kronleuchter mit seinen funkelnden Prismen.

      »Dass Sie das Haus bis übermorgen nicht verlassen dürfen …«, die Nachlassverwalterin kramte mit gerunzelter Stirn ein Dokument aus ihrer Aktentasche hervor, »mutet schon bizarr an, muss ich sagen.«

      »Allerdings.« Deborah kniff ihre Augen, die die Farbe von Bitterschokolade hatten, zusammen und strich sich eine Strähne hinters Ohr. »Was mag mein Onkel damit bezwecken?« Eine senkrechte Falte erschien zwischen ihren vollendet geformten Brauen.

      Helene Thalbach zuckte mit den Achseln. »Da müssten Sie ihn fragen können. Vielleicht will er Ihren Mut prüfen, wer weiß.«

      »Na super.«

      »Deborah, sollten Sie in Gefahr geraten, rufen Sie bitte sofort die Polizei.«

      »Ich kann auf mich aufpassen. Bin ja schon ein großes Kind.« Zärtlich betrachtete die Hauserbin in spe die in Silber gerahmten schwarzen Quadrate an der Wand. Schwarz, das Lapislazuli der abstrakten Expressionisten, war ihre Lieblingsfarbe.

      Die Nachlassverwalterin hatte sich ihren Kaschmirmantel um die Schultern gelegt und ergriff die Aktentasche. »So, dann lasse ich Sie jetzt mal mit Ihrer Villa Kunterbunt allein.«

      Deborah begleitete sie zur Tür. Als sich die Frauen voneinander verabschiedeten, tauchte die Dämmerung den Himmel in die Farben des Feuers.

      Die junge Frau schloss die Tür und verriegelte sie. Dann kickte sie ihre zierlichen schwarzen Lackpumps in die Ecke. Mit Koffer und Beauty-Case in den Händen stieg sie die Marmortreppe empor, welche oben von je einer lebensgroßen steinernen Frau mit erhobenem Gasleuchter flankiert wurde. »Ihr dürft mich Königin der Welt nennen, Schwestern«, sagte sie übermütig, als sie die Statuen passierte.

       In zwei Tagen bin ich Millionärin. Ich muss nie wieder arbeiten!

      Als sie sich nach dem Schaumbad vor dem beschlagenen Spiegel das Haar zum Pferdeschwanz band, blickte sie auf eine geisterhafte, ätherische Version ihrer selbst.

      Nach dem Genuss eines Schinken-Omeletts inspizierte sie ihr Schlafzimmer, ein düsterer hoher Raum, dessen Wände mit rotem Damast bezogen und mit alten Stichen geschmückt waren. Bücher drängten sich in Regalen, balancierten auf der Kommode und lugten unter dem Bett hervor, auf das jemand frische Laken gelegt hatte. Sie nahm zwei Bücher mit goldverzierten Einbänden zur Hand und setzte sich auf die Bettkante. Das eine war ein naturwissenschaftliches Werk von Paracelsus, das andere Goethes »Faust«. Sie öffnete den »Faust« da, wo sich das seidene Lesezeichen befand: Die geschilderte Laboratoriumszene, wo Wagner im Beisein von Mephistopheles den Homunkulus, einen künstlichen Menschen in einer Phiole erzeugt, war rot unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen. Da sich Deborahs Interesse an derlei Texten in Grenzen hielt, legte sie das Buch zur Seite und öffnete das Fenster. Der Nachthimmel sah aus wie ein schwarzes Meer, auf dessen Oberfläche zahllose Lichter um einen dreiviertelvollen Mond herum glitzerten. Sie blickte auf die Häupter der steinernen Statuen herab und roch den scharfen Duft des toten Laubes. Sie schloss das Fenster und legte sich im schwarzen Bademantel mit angezogenen Knien unter die Bettdecke, das Smartphone griffbereit neben sich.

      Später verschickte sie noch ein paar SMS an ihre besten Freundinnen. Danach versuchte sie zu schlafen, jedoch erfolglos: Zu viele Gedanken im Zusammenhang mit dem Testament und dieser Villa gingen ihr durch den Kopf …

      Als sie um zwei Uhr morgens immer noch herumgrübelte, stand sie auf, um eine Schlaftablette zu schlucken. Kaum hatte sie gähnend das Licht angeknipst, klingelte es an der Haustür. Sie erstarrte.

      Als es im Haus ruhig blieb und sie sich wieder gesammelt hatte, schlich sie mit laut klopfendem Herzen nach unten.

      Auf dem Boden unter dem Türschlitz entdeckte sie einen Umschlag. Vorsichtig hob sie ihn auf und zog dessen Inhalt hervor, ein von Hand beschriebenes DIN-A4-Papier. Absender war ihr Onkel. Dass er offenbar Helfer hatte, die seine noch zu Lebzeiten verfasste Korrespondenz nach seinem Tod verteilten, fand Deborah beunruhigend.

       Beschatten die mich auch?

      Sie versicherte sich, dass die Tür abgeschlossen war, blickte durch den Spion bevor sie den Text las. Thaddäus schrieb, obschon er sie nur selten gesehen habe, liebe er seine Nichte wie eine leibliche Tochter, weshalb er ihr die Villa vermache, für deren Unterhalt gesorgt sei. Die Testamentsauflage mit der Zweitagesfrist solle bewirken, dass Deborah genug Zeit habe, sich an das Haus zu gewöhnen und lieb zu gewinnen. Ihm sei wichtig, dass es in Familienbesitz blieb und nicht an Dritte veräußert würde. Dasselbe gelte für den kostbaren Rubinring, der für sie an einem geheimen Ort aufbewahrt werde.

      Der Onkel hatte eine Skizze des Hauses angefertigt und eines der Zimmer rot markiert. Zufälligerweise war es das Zimmer, in dem sie nächtigte. Auf dem Papier befand sich auch die Zeichnung des Bücherschranks der dort stand. Betätige man seinen versteckten Mechanismus (er war mit einem Pfeil markiert), würde ein Teil des Regals zur Seite gleiten und die Pforte zum Versteck des Rings freigeben.

       Droht mir Gefahr, wenn ich der Aufforderung des Onkels nachkomme?

      Zweifellos war er ein Exzentriker gewesen, aber dass er sie in eine Falle locken wollte, konnte sie sich nicht vorstellen. Von Natur aus neugierig beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen.

      Mit dem Brief in der Hand stand sie vor dem Bücherschrank und suchte nach dem Geheimmechanismus. Als sie ihn betätigte, glitt der Schrank mit einem leisen Quietschen zur Seite. Dahinter erschien eine kleine Holztür. Deborah gab einen überraschten Laut von sich. Kurz zögerte sie, doch dann steckte sie den Brief ein, entriegelte die Pforte und drückte dagegen. Sie hörte das leise Reiben von Holz auf Holz. Die junge Frau zog die Taschenlampe aus dem Hosenbund und steckte ihren Kopf durch den Türrahmen. Stickige Luft wie von Gespensteratem schlug ihr entgegen. Eine abwärts führende Wendeltreppe erschien im Lichtstrahl. Deborah schüttelte ihre Beklommenheit ab und betrat aufgeregt die Treppe, stieg vorsichtig hinunter bis zu einem Raum, in den von allen