Energisch winkte er den Privatfotografen zu sich. »Sie werden die Redaktionen in ganz Baden-Württemberg mit Fotos und Berichten überschwemmen!«, befahl er. Und an seine Marketingchefin gewandt stellte er die Frage: »Sehe ich gut aus?«
Sie zupfte ein wenig an ihm herum und nickte dann heftig. »Supergut.«
»Dann los! Bringen wir es hinter uns. Wo ist die Schere?« Eilig schritt Fack zum Portal der neuen b&s-Filiale. Ein Firmenmitarbeiter reichte ihm auf dem Weg dorthin eine überdimensional große Schere. Der Fotograf schoss bereits ein Foto nach dem anderen. Hinter dem blau-roten Absperrband warteten drei eigens für den heutigen Tag georderte, junge, gut aussehende Verkäuferinnen. Sie trugen blau-rote b&s-Verkaufskittel, welche die Blicke auf ihre Dekolletés nicht beeinträchtigten.
»Dann wollen wir mal.« Fack hielt die Schere hoch, jemand brachte ihm ein Mikrofon. Er schob sich zwischen seine Marketingchefin und die drei Verkäuferinnen, sodass zwei von ihnen dicht neben ihm stehen mussten, und verzog das Gesicht zu einer heftig grinsenden Grimasse. Die vier Mädchen eiferten ihm nach und im Publikum machte sich Unruhe breit.
Facks Stimme schallte über den Vorplatz: »Ich eröffne hiermit die dreihundertsiebenundzwanzigste Filiale von b&s – dem besten und billigsten Discounter in ganz Europa!« Anschließend versuchte er, mit der Schere das Band zu teilen, was ihm aber erst beim zweiten Versuch gelang. Die drei Auf-Zeit-Verkäuferinnen ließen die Enden des Bandes, das sie bislang hochgehalten hatten, los und traten zur Seite, während der Milliardär fast von der einkaufswütigen Menge überrannt wurde.
Zwei Personenschützer kämpften sich durch die Menge, ergriffen den etwas hilflos dastehenden Fack an den Schultern und führten ihn mit beruhigenden Worten zu einem Fahrzeug. »Steigen Sie bitte ein, Herr Fack, wir bringen Sie gesund hier raus.«
Eine Sekunde lang feixte der ambitionierte Kaufmann. »Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchem Enthusiasmus die Leute ihr Geld zu mir bringen.«
Der Riese vom Personenschutz nickte, ohne zu lächeln, und schob Fack in den schwarzen Mercedes-Van. »Setzen Sie sich.« Er drückte den Milliardär auf die Sitzbank und zog die Schiebetür von innen zu.
Einen Moment lang glaubte Theodor Fack zu träumen. Neben ihm befanden sich zwei weitere Männer vom Personenschutz. Allerdings geknebelt und ohnmächtig. Dann fühlte er einen derben Stich im Hals und wandelte kurz darauf ebenso im Traumland.
»Der Fack hat’s aber eilig wegzukommen«, stellte die Marketingchefin fest, während der Vito rasch den Parkplatz der Filiale verließ. Sie schaute skeptisch drein, denn sie hatte von diesem Tag wohl etwas mehr erwartet.
*
Hannes Gartenleitner hatte vor zwei Jahren in zunehmendem Maße an einer akuten Niereninsuffizienz gelitten. Zwei Monate wartete er vergeblich auf Spendernieren, dann nahm er das Heft des Handelns selbst in die Hand. In Brasilien wurde er fündig. Während das Land bereits im Fußballfieber versank, wurden ihm in einem großen privaten Hospital gleich zwei Nieren erfolgreich transplantiert. Er hielt nichts von den Gerüchten, die besagten, dass man die Nieren jungen Menschen gestohlen hatte, die zuvor in den Favelas in belanglose Unfälle verwickelt worden waren, um sich in die Obhut eines Krankenhauses begeben zu müssen, und die im Laufe der Behandlung dann tragisch und unerkannt verstarben. Für ihn war dies nur das Geschwätz jener Leute, die Brasilien alles Positive abzusprechen versuchten. Außerdem hatte er ein Vermögen dafür geopfert, wenngleich in Gartenleitners Maßstäben nur ein kleines Vermögen.
Der sechsundvierzigjährige Software-Entwickler würde mehr als siebenhundertvierzig Millionen Euro auf seinen Konten vorfinden können. Den größten Teil seiner Einnahmen erbrachte die in seiner Spieleschmiede in Kassel entwickelte Software »Dragonblaze«, ein Online-Rollenspiel, das sich weltweit millionenfach verkauft hatte. Er selbst lebte in beinahe bescheidenen Verhältnissen am Rande der Stadt Kassel. Dort teilte er sich eine Eigentumswohnung mit einer Fläche von vierhundertzehn Quadratmetern mit seiner Frau und der bereits volljährigen Tochter.
Es war so eine Situation, wie sie sich in den letzten Monaten ständig zu wiederholen drohte. Die dreiundvierzigjährige Marion Braun-Gartenleitner, Chefin der Werbeabteilung einer recht bekannten Zeitschrift und zudem nicht selten als Frauenrechtlerin in Erscheinung tretend, verfiel in einen nicht enden wollenden Streit mit ihrer Tochter. Emilia, eine lustlose BWL-Studentin, lebte nur zu gern in den Tag hinein und bat meistens freitags – in Abwesenheit der Mutter – den Vater um Taschengeld-Nachschub, um spätestens am Freitagabend und möglichst während des gesamten Wochenendes das Leben mit Freundinnen und Freunden zu genießen.
Gartenleitner zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, um dem Kreischen der Frauen zu entfliehen. Er schaltete eine über seinen Computer gesteuerte Soundanlage ein. Bei Dire Straits gelang es ihm kurzzeitig, sich zu beruhigen. Das Brummen des Telefons holte den gestressten Mann in die Gegenwart zurück. Nach einigen Tastengriffen sah er das Kamerabild seines Stellvertreters Knut Simon auf dem Monitor, bereit zum Skypen.
»Was ist los, Knut?«
Simon kratzte sich im Vollbart, ein sicheres Zeichen, dass er außergewöhnlich stark erregt war. »Ein Typ von SV hat hier angerufen. Er will dich sprechen. Dich ganz allein.«
Ein Lächeln huschte über Gartenleitners Gesicht. »Hat die Science Vision tatsächlich angebissen?« Science Vision – ein börsennotiertes, weltweites Unternehmen, das in erster Linie Online-Games multilingual und per Lizenz verwaltete! Dollarzeichen glänzten in Gartenleitners graublauen Pupillen. »Hat der Typ schon was angedeutet?«
»Kein Wort. Du sollst pünktlich fünfzehn Uhr vor dem Schlosscafé Wilhelmshöhe stehen. Alles klang ziemlich geheimnisvoll.«
»So sind die nun mal.« Ein unterdrückter Jauchzer entfuhr Gartenleitner. Er warf einen Blick auf die Uhr seines Computers. »Das ist in einer Stunde. Weißt du, was das heißt, Knut?«
»Viel Knete, hoffe ich. Wenn wir denen eine Lizenz für ›Dragonblaze‹ verkaufen …«
»… dann können wir uns getrost zur Ruhe setzen«, beendete der Software-Entwickler den Satz seines Mitarbeiters. »Endgültig!« Er war bereits aufgestanden, nahm ein Jackett von der Stuhllehne und schlüpfte hinein. »Okay, ich muss los. Ich melde mich bei dir.«
»Aber nur mit positiven Nachrichten, Hannes.«
Der Rechner fuhr herunter, während Gartenleitner den Inhalt seiner Laptoptasche prüfte, dann diese über die linke Schulter hängte und das Arbeitszimmer verließ.
Das Kreischen im Nebenzimmer war noch in vollem Gange, hatte sich gar gesteigert. Auf der Innentreppe blieb der Programmierer stehen, um kurz zu überlegen, ob er einen Abschiedsgruß brüllen sollte, ließ es dann jedoch bleiben und verließ das Haus.
Achtundvierzig Minuten später fuhr er auf den fast leeren Parkplatz vor dem Schlosscafé, schnappte sich die Tasche und lief die wenigen Meter zurück zur Landstraße.
›Warum so geheimnisvoll?‹, hätte er denken müssen. Doch soweit dachte er nicht. Er fühlte sich in die eigene Kindheit zurückversetzt, in jene Zeit, als er von einem Fuß auf den anderen tretend, erwartungsvoll und mit weichen Knien vor der Weihnachtsstube stand. ›Heute ist endlich Bescherung‹, dachte er stattdessen. Mühevolle Wochen des Anbiederns und Einschmeichelns lagen hinter ihm. Nun endlich sollten die Früchte seiner Arbeit geerntet werden. Branchenüblich waren zweihundertfünfzig Millionen Euro Gewinn im Rahmen des Möglichen. Freilich, mehr als die Hälfte würde sich der Staat holen, doch übrig blieb genug.
Gartenleitner schob die Sonnenbrille hoch und blickte die Straße hinunter. Erstaunlicherweise war sie wenig befahren. Ruhe herrschte. Ein Motorengeräusch näherte sich und mit ihm ein schwarzer Van. Das mussten sie sein! Der Puls des Programmierers erhöhte sich.
Das Fahrzeug hielt unmittelbar neben ihm, die Seitentür öffnete sich. »Wollen Sie viel Geld verdienen?« Die fragende Stimme wartete nicht auf eine Antwort. »Dann steigen Sie ein, Herr Gartenleitner.«
*
»Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt