Wenn alle Stricke reißen. Beate Vera. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Beate Vera
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежные детективы
Год издания: 0
isbn: 9783955522087
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      »Ich danke Ihnen, Herr Glander. Wenn Sie mich kurz entschuldigen würden, ich bin gleich wieder da.« Maria Berthold erhob sich und verließ das Wohnzimmer.

      Merve sah Glander an und sagte leise: »Rufst du die Kollegen an, oder soll ich das übernehmen?«

      »Keiner von uns macht das, erst einmal. Ich hoffe, Frau Berthold besinnt sich noch. Sonst rede ich mit dem Ehemann, sobald der hier auftaucht. Ich möchte, dass du in den Krankenhäusern anrufst, für alle Fälle. Taras Foto hast du ja, um sie zu beschreiben. Ich lasse Frau Berthold eine Aufstellung von Taras Wochenablauf machen. Wir müssen die Orte aufsuchen, an denen sie sich regelmäßig aufgehalten hat. Vielleicht ist dort jemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen.«

      Merve blickte Glander ernst an. »Ich finde es sehr merkwürdig, dass der Ehemann nicht hier ist. Das Kind wird entführt, und er überlässt seine Frau sich selbst. Das ist nicht normal. Nicht mal für euch Deutsche.«

      Glander nickte grimmig. »Da hast du wohl recht. Tara ist nicht seine Tochter, das weiß aber niemand. Mein Gefühl sagt mir, dass noch mehr dahintersteckt, und ich hoffe, wir finden möglichst schnell heraus, was es ist.«

      Merve zog sich in das benachbarte Esszimmer der Familie Berhold zurück, klappte ihren Laptop auf und begann, die familiäre und finanzielle Situation der Bertholds und der Mieter des Hauses zu durchleuchten, sowohl auf rechtlich unbedenklichem Weg als auch auf einigen Pfaden, die etwas abseits der Legalität lagen. Während sie auf die Ergebnisse ihrer Suchanfragen wartete, telefonierte sie die umliegenden Krankenhäuser ab, doch wie erwartet war in keines ein Mädchen eingeliefert worden, auf das Taras Beschreibung passte. Danach ging sie in Taras Zimmer. In dem Raum befanden sich ein schmales, ordentlich gemachtes Bett und ein funktionaler Kleiderschrank aus Kiefer, der eine Menge Tennisbekleidung enthielt. Vor dem Fenster stand ein aufgeräumter Schreibtisch, davor ein teurer Stuhl aus dem Orthopädiefachhandel. Die Wände waren in einem Beigeton gestrichen, der Teppich war blaugrau mit eingestreuten Rauten in Orange. Merve stand in einem Zimmer, das nicht typisch für ein Mädchen in Taras Alter war. Keine Spur von Romantik. Es fehlte auch der übliche Kitsch, den Siebzehnjährige oft um sich herum verbreiteten. Nicht mal ein Lipgloss lag herum. Merve ließ das Ambiente auf sich wirken und nahm sich dann Taras Laptop vor, der geschlossen auf dem Schreibtisch lag. Sie war zuversichtlich, dass ihr das Passwort keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten würde.

      Tara hatte alles aufgegessen, so hungrig war sie gewesen. Jetzt las sie den Kaye im Licht der Taschenlampe. Sie war ganz ruhig. Über die Jahre hatte sie gelernt, Dinge auszublenden, und ein Buch war das perfekte Mittel dafür. Wenn Tara las, vergaß sie alles um sich herum.

      Die Deckenluke öffnete sich einen Spaltbreit, und gleißendes Licht blendete sie, so dass sie nur eine Silhouette erkennen konnte. Eine Stimme, die klang, als hielte sich jemand etwas vor den Mund, sprach sie an.

      »Ich werde dir nicht weh tun, wenn du tust, was ich dir sage. Ich gebe dir zu essen und zu trinken. Hab keine Angst! Ich werde mich um dich kümmern.«

      Tara starrte in das helle Licht und wollte etwas erwidern, doch die Luke wurde wieder zugezogen. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass das rechteckige Flimmern vor ihren Augenlidern verschwand. Sie sollte keine Angst haben? Tara hatte immer Angst, nur wusste das niemand.

      Maria Berthold war ins Wohnzimmer zurückgekehrt und saß Glander gegenüber. Ihr rechtes Augenlid zuckte, und sie öffnete und schloss ständig ihre Hände, ohne es zu merken.

      »Frau Berthold, Sie erwähnten, dass Ihr Mann lediglich Taras Stiefvater ist. Kann es sein, dass Ihre Tochter bei ihrem leiblichen Vater ist? Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«

      Maria Bertholds Gesicht zeigte einen Ausdruck von Abscheu, der Glander überraschte. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist ausgeschlossen. Taras Erzeuger«, sie spuckte das Wort beinahe aus, »hat damit bestimmt nichts zu tun. Glauben Sie mir, Herr Glander!«

      »Nun, ich möchte nur ausschließen, dass Ihre Tochter …«

      Maria Berthold hob abwehrend die Hand, ihre Gesichtszüge fast schmerzverzerrt. Sie holte tief Luft und musste einen Augenblick in sich gehen, bevor sie zu einer Erklärung ansetzen konnte. »Heinz hatte damals einen Kongress in London, und ich wollte ihn nicht begleiten. Ich fliege nicht gerne. Wir stritten uns deswegen. Heinz ist es nicht gewohnt, dass man ihm widerspricht, aber ich blieb standhaft. Als mein Mann auf dem Kongress war, besuchte ich die Philharmonie. Es war eine laue Sommernacht. Nach dem Konzert wollte ich die wunderbare Musik noch auf mich wirken lassen und ging ein Stück durch den Park. Dort passierte es dann. Es ging ganz schnell. Ich sah den Mann nicht kommen. Er zog mich ins Gebüsch und …« Sie wandte ihren Blick von Glander ab, bevor sie weitersprach. »Ich habe keine Anzeige erstattet, weil ich mich so sehr schämte. Sie können sich mein Entsetzen vorstellen, als ich Wochen später merkte, dass ich schwanger war. Ich bin Katholikin, ein Abbruch kam nicht in Frage. Die Schwangerschaft verlief kompliziert. Bei der Geburt verlor ich eine Menge Blut, ich hätte sie beinahe nicht überlebt. Als Tara zwölf Jahre alt war, bestätigte sich, dass ich keine Kinder mehr bekommen kann. Daraufhin sagte ich Bernd alles. Tara weiß nichts davon, und sie darf es auch unter keinen Umständen erfahren.«

      Leise fragte Glander: »Wie hat Ihr Mann reagiert?«

      Maria Berthold versuchte ein Lächeln, das ihr nicht gelang. »Er hat mir nicht geglaubt. Heinz ist ein sehr erfolgsverwöhnter und ehrgeiziger Mann, Niederlagen sind in seinem Leben nicht vorgesehen. Überdies ist er sehr eifersüchtig, und unser Altersunterschied macht es nicht einfacher. Er ist überzeugt davon, dass ich fremdgegangen bin. Irgendwann gab ich es auf, ihn von der Wahrheit überzeugen zu wollen. Er hat extrem viel zu tun und ist dauernd unterwegs. Wir haben uns … arrangiert.«

      Glanders Bauchgefühl hatte ihn nicht getrogen. Er hatte geahnt, dass hinter dem Verhalten des Ehemanns mehr steckte als nur viel Arbeit in der Klinik. Dass es eine solch tragische Geschichte war, hatte er allerdings nicht erwartet. »Es tut mir aufrichtig leid, Frau Berthold. Unter diesen Umständen muss ich Sie aber fragen, ob Sie es für möglich halten, dass Ihr Mann etwas mit der Entführung zu tun hat.«

      Sie seufzte. »Ich weiß schon sehr lange nicht mehr, wer dieser Mann an meiner Seite ist, Herr Glander.«

      Glander hielt es an diesem Punkt für das Beste, die Richtung seiner Fragen zu ändern. »Hat Tara einen Freund?«

      »Nein, ich glaube nicht. Sie hat wohl einen Schwarm an ihrer Schule, aber der scheint ihre Gefühle nicht zu erwidern. Ihre beste Freundin Louise wird darüber besser informiert sein, denke ich. Sie wohnt mit ihrem Vater hier im Souterrain. Ich habe vergeblich versucht, Louise zu erreichen, als Tara nicht nach Hause kam.«

      Glander würde mit dieser Louise sprechen müssen, um mehr über Tara Berthold herauszufinden. Beste Freundinnen hatten in dem Alter nicht viele Geheimnisse voreinander. »Gibt es sonst etwas, das Ihnen einfällt? Egal, wie belanglos es Ihnen vorkommen mag. Ist Ihnen in letzter Zeit jemand in der Nähe des Hauses oder anderswo aufgefallen?«

      Wieder schüttelte Maria Berthold den Kopf. »Nein, es war alles wie immer.«

      Glander stand auf. »Ich werde nach unten gehen und sehen, ob ich Louise antreffe und mehr über Taras Schwarm herausfinden kann. Es wäre gut, wenn Sie Frau Celik und mir in der Zwischenzeit Taras Wochenablauf aufschreiben, also ihre regelmäßigen Termine, ihren Stundenplan, das Tennistraining. Wir bräuchten auch eine Liste ihrer Freunde und weiterer Bezugspersonen wie Verwandte, Trainer, Lehrer und so weiter. Ich bin gleich wieder da, Frau Celik bleibt hier.«

      Im Souterrain musste Glander klopfen, die Klingel funktionierte nicht. Ein sommersprossiges Mädchen, das Glander gerade bis zur Brust reichte, öffnete die Tür. Es hatte strahlende Augen, eine Stupsnase und einen breiten Mund, dessen hochgezogene Mundwinkel stets für einen lächelnden Gesichtsausdruck sorgten. Über die Schultern des Mädchens fiel eine wilde Mähne dunkelblonder Locken, und eine kleine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen gab Louise einen recht lasziven Ausdruck für ihre siebzehn Jahre. Sie war barfuß, und Glander nahm den blitzenden Zehenring an ihrem linken Fuß wahr. Am rechten