Arne und Carola hatten vier Kinder, alle sehr aufgeweckt und sportlich. Wie Carola den Haushalt stemmte, konnte Lea nur bewundern. Zusätzlich zu den sechs Personen, die es mit Mahlzeiten und sauberer Wäsche zu versorgen galt, waren da noch Horst, der Bassett, die Wellensittiche Holmes, Marple, Derrick und Brisgau sowie Cindy, Claudia, Heidi und Linda, die Zwergkaninchen, die im hinteren Teil des Gartens ein großes Gehege bewohnten. Die Namen der dicklichen Hasen waren Carolas Rache an allen Frauen mit einer Kleidergröße unter 38, die sie selbst vor Jahren hinter sich gelassen hatte. Lea mochte Carola sehr. Sie war unerschütterlich, und es schien kein Problem zu geben, das die Nachbarin nicht in den Griff bekam. Nie beschwerte sie sich, dass sie zu kurz komme. Vielmehr genoss sie ihr lebhaftes Familienleben in vollen Zügen.
Ganz im Gegensatz zu ihrer beider Freundin Svenja Ritter, die wie Lea und die Saberskys im Dürener Weg wohnte. Leas Laune sank rapide, als sie an den Streit dachte, den sie in der letzten Woche mit Svenja gehabt hatte. Der saß ihr noch immer in den Knochen. Im Juli, kurz nach den dramatischen Ereignissen in der Siedlung, hatte Svenjas Mann René seiner Frau gestanden, dass er seit Jahren eine Beziehung zu einem Mann in München unterhielt, den er auch finanziell unterstützte. Lea hatte ein gespanntes Verhältnis zu René gehabt und sich oft gefragt, was hinter dessen sprödem Verhalten Frauen gegenüber, ganz speziell seiner eigenen, steckte und warum Svenja sich das bieten ließ. Dass René eine heimliche homosexuelle Beziehung führte, und das bereits seit Jahren, damit hätte Lea allerdings im Leben nicht gerechnet. Es hatte Svenja besonders hart getroffen, dass es ein Mann war, der ihr den Ehemann ausspannte, und sie stand seitdem völlig neben sich. Lea verstand nicht, warum ein Mann als Trennungsgrund so viel ärger sein sollte als eine Frau. Es war immer traurig, wenn eine Beziehung in die Brüche ging. Doch Svenja war nicht traurig, sie war maßlos wütend und ließ ihren Zorn ungeniert an ihrem Umfeld aus. Bei ihrem letzten Treffen hatte Lea einiges abbekommen und sich ein paar sehr hässliche Dinge anhören müssen. Bei allem Verständnis für Svenjas Situation – die vermeintliche Freundin war entschieden zu weit gegangen, und Lea war immer noch über die so offen zur Schau gestellte Homophobie und Boshaftigkeit schockiert. Sie hatte Svenja sehr deutlich gesagt, was sie von deren Einstellung hielt, und sie gebeten zu gehen. Diese hatte mit lautem Gezeter und Türenschlagen reagiert. Seither herrschte eisiges Schweigen, und Svenja ignorierte Lea, wenn sie sich auf der Straße über den Weg liefen. Lea war nicht froh über diese Situation, aber Chauvinismus jedweder Couleur war ihr zutiefst zuwider. Svenja schien überdies schon länger einen gewissen Groll gegen sie gehegt zu haben, was Lea zu denken gab.
Leas Gedanken wanderten weiter zu Margot Wieland, einer anderen Nachbarin aus dem Dürener Weg. Sie hatte die ältere Dame, die ihr im Sommer zur Seite gestanden hatte, ins Herz geschlossen. In den letzten Wochen hatten sie sich regelmäßig zum Essen verabredet. Margot Wieland war seit ihrem ersten gemeinsamen Ausflug mit Lea ins »Thai by Thai« ein großer Fan der asiatischen Küche und Stammgast des Restaurants in der Goerzallee geworden. Am kommenden Montag würde sie eine vierwöchige Kur antreten, und Lea hatte für Sonntagabend ein Abschiedsessen mit der liebgewonnenen Nachbarin geplant. Deshalb schrieb sie nun eine Einkaufsliste mit Zutaten, die sie für ein indisches Hühnchencurry und ein Spinat-Bhaji nach Rezepten eines alten Freundes aus Enfield brauchte. Steve machte das beste Curry außerhalb des Punjabs, wie seine Gäste in Anlehnung an das alte Britisch-Indien zu sagen pflegten. Lea notierte außerdem, was sie für ein Baileys-Tiramisu benötigte, und machte sich dann auf den Weg zum nahe gelegenen Supermarkt in Teltow.
Glander war alles andere als begeistert von seinem ersten Auftrag. Der würde zwar sehr lukrativ werden, aber ein gutes Gefühl hatte er bei der Sache nicht. Er nahm sein Handy, um Lea anzurufen. Er würde ihr die Lage in der Lüdersstraße erklären und sie auf Merves Besuch vorbereiten, denn er hatte seine Partnerin gebeten, auf ihrem Weg zu den Bertholds seinen Laptop mitzubringen, den er bei Lea gelassen hatte. Sowohl auf dem Festnetz als auch auf ihrem Handy meldete sich nur der Anrufbeantworter, und so verschob er das Telefonat auf später. Auch wenn er sich das Wochenende ganz anders ausgemalt hatte, stellte sich bereits das warme Kribbeln im Nacken ein, das er zu Beginn jeder Ermittlung verspürte. Er schaute sich in dem großen Flurspiegel der Bertholds an. Seine stahlblauen Augen waren umrahmt von kleinen Fältchen, viele davon hatten die unzähligen Stunden auf dem Wasser hinterlassen. Glander hatte seine frühe Kindheit an der Kieler Förde verbracht, später war die Familie nach Wannsee gezogen, und Glander war ein erfahrener Schwimmer und Wassersportler. Er war in sehr guter physischer Verfassung und fest entschlossen, in seiner neuen Rolle als privater Ermittler nicht weniger erfolgreich zu agieren als in seiner Position als Kriminalhauptkommissar. Die letzten sechs Wochen hatten ihm gutgetan. Er war Mitte vierzig und gewiss, dass es irgendwann zu spät für einen Neuanfang gewesen wäre. Seinen Job bei der Kripo aufzugeben war die richtige Entscheidung gewesen, er hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt.
Im Geiste ging Glander bereits durch, was als Nächstes zu tun war. Die Ortung von Taras Handy würde vermutlich nichts ergeben, sie würden es dennoch versuchen. Sie mussten sich ein detailliertes Bild von Tara und ihrer Familie sowie von den Lebensumständen des Mädchens machen, ihre wöchentlichen Aktivitäten von der Schule bis hin zu Hobbys akribisch in einem Zeitplan notieren und Freunde und deren Familien durchleuchten. Auch die Nachbarschaft mussten sie abklopfen und fragen, ob jemand verdächtige Personen oder Fahrzeuge bemerkt habe. Glander hoffte, dass Frau Berthold dem Druck standhielt und ihnen möglichst viele Informationen geben konnte. Er strich sich durchs straßenköterblonde Haar und ging zurück ins Wohnzimmer.
Lea hatte die Einkäufe gerade in der Küche abgestellt, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete und sah sich einer jungen Frau gegenüber, die sie auf Anfang dreißig schätzte. Sie war etwa einen halben Kopf kleiner als sie selbst, die beinahe 1,80 Meter maß, hatte lange, gelockte rabenschwarze Haare und große dunkle Augen. Ihr voller Mund war mit einem matten Lippenstift in einem dunklen Rosa geschminkt. Sie trug bis etwas über die Knöchel hochgekrempelte Boyfriend-Jeans, grüne Converse High Tops, ein weißes Unterhemd aus Lycra und darüber ein kariertes Männerflanellhemd, das den Grünton ihrer Schuhe aufgriff. Die Frau hatte eine sehr ansehnliche Oberweite und einen Teint, den deutsche Boulevardmedien gerne als südländisch bezeichneten. Vor Lea stand eine Frau, derentwegen Männer Dummheiten begingen.
»Aman Allahim! Scheiße, ist der riesig!«, entfuhr es der Frau, als sie Talisker sah, der neben Lea stand. »Ich kann gar nicht gut mit Hunden. Also, ich hab richtig Schiss vor denen.«
»Sit, Tally!«, befahl Lea ihrem Hund, der sich sofort setzte.
Die Frau sah verwundert zuerst den Hund und dann Lea an. »Das ist ja ungewöhnlich, dass hier jemand englisch mit seinem Hund spricht.« Sie streckte Lea die Hand entgegen. »Ich bin Merve, Glanders Partnerin. Er hat mich gebeten, seinen Laptop mitzubringen.«
Das war also Merve Celik, die Frau, mit der Glander sich selbständig gemacht hatte. Lea hatte sich seine Partnerin ganz anders vorgestellt: älter, gediegener – und bei weitem nicht so attraktiv. In ihrem Kopf schwirrten plötzlich eine Menge Gedanken umher, und keiner davon gefiel ihr so richtig. Sie sammelte sich. »Lea Storm, freut mich. Talisker war die englischen Befehle schon gewohnt, als mein Mann und ich ihn übernommen haben. Da ich wie mein Mann fließend Englisch spreche, haben wir uns nie die Mühe gemacht, ihm alles auf Deutsch beizubringen. Aber kommen Sie doch herein!« Lea tendierte dazu zu faseln, speziell wenn sie nervös war. Sie fragte Merve Celik: »Was ist denn eigentlich passiert?«
Merve zuckte mit den Schultern. »Ich weiß selbst noch nicht sehr viel. Eine Schülerin vom Albrecht-Berblinger-Gymnasium ist verschwunden, und die Eltern haben eine Lösegeldforderung erhalten. Wir werden versuchen, das Mädchen zu finden, gegebenenfalls übernehmen wir die Geldübergabe. Die Mutter weigert sich, die Polizei zu verständigen. Im Moment können wir nur darauf warten, dass die Entführer wieder Kontakt aufnehmen.