Eine Idee nach der anderen formte sich in der Vorstellung des Spirits, nur um dann wieder verworfen zu werden. Dann, eines Tages, wusste er, was zu tun war. Er würde dem Großvater etwas nehmen, was ihm wichtig war.
Wie alle wusste er um den runden Raum im Zentrum von Großvaters Kugel. Dort, gut geborgen, lebten seine ältesten Kinder, die Lieder des Lebens. Nicht einmal die ältesten Spirits konnten sich an eine Zeit ohne sie erinnern und selbst Großvater Sonne war sich manchmal nicht sicher, ob er nun wirklich älter war. Deshalb wachte er wie kein anderer über sie, denn es hätte ihn unendlich traurig gemacht, wenn er eines seiner geliebten Kinder verlieren würde. Der kleine Spirit musste nur auf den passenden Moment warten und seinem Plan folgen.
Von Zeit zu Zeit brauchte auch der Sonnenvater etwas Ruhe und fiel dazu in eine Art Traum. Er entspannte sich und ließ seinen Blick hinaus in die Endlosigkeit des Universums streifen, lauschte dem Lied des Lebens, beobachtete die tanzenden Sterne und wachte dann gestärkt wieder auf. In diesen seltenen Ruhephasen hielt das ganze Sonnenreich den Atem an. Denn sobald sich die Sonne verfinsterte, wurde jedem bewusst, wie vergänglich das Leben doch war.
Als Großvater Sonne einen dieser kleinen Kurzurlaube genoss, nutzte der kleine Spirit den Moment. Er eilte den Gang ins Zentrum hinab. Dort musste er schnell handeln und griff entschlossen nach der goldenen Tasche, welche seit Anbeginn der Zeit im Raum der Lieder hing. Es war eine besondere Tasche. Mächtige Symbole zierten sie und verliehen ihr die Kraft, Dinge, die sich in ihr befanden, festzuhalten.
Ein besonders kleiner und schwächlich wirkender Funke stach ihm ins Auge. Kurzerhand griff sich der kleine Spirit den Funken und steckte ihn in die Tasche.
Noch beim Davonlaufen verknotete er die Tasche und hielt den Funken sicher darin gefangen. Zugleich brach hinter ihm das Chaos aus. Immer lauter hörte er die ängstlichen Rufe der anderen Lieder.
Der kleine Spirit wusste, dass er nicht bleiben konnte und in die Weiten des Universums fliehen musste. Er war nun ein Dieb und musste sich irgendwo am Rande des Sonnenreichs verstecken.
So rannte er durch das endlose Universum, vorbei an der ersten Tochter des Großvaters. Als die zweite Tochter in Sicht kam, begannen seine Kräfte zu schwinden. Er wurde langsamer, die Flucht strengte ihn mehr an als gedacht. Und da der kleine Funken hartnäckig daran arbeitete, sich aus seinem Gefängnis zu befreien, hatte er Mühe, die Tasche zu halten.
Um ihn herum funkelten zahllose Sterne, andere Töchter und Sonnen, alle geborgen im Leib der Urmutter. Langsam näherte er sich der dritten und jüngsten Tochter, die sich einen Platz nah bei ihrem Sonnenvater ausgesucht hatte.
Wage glaubte der kleine Dieb sich zu erinnern, wie Großvater Sonne von ihrer strahlenden Schönheit geschwärmt hatte. Doch für solche Banalitäten hatte der Dieb jetzt keine Zeit. Seine Beine wurden immer schwerer und bald schon humpelte er. Je weiter er sich vom Großvater entfernte, umso unbehaglicher wurde es ihm. Zweifel begannen an ihm zu nagen, aber nun gab es kein Zurück mehr.
Ohne es zu bemerken, war er gegen den Schutzschild der dritten Tochter geprallt, und dabei entglitt ihm die Tasche. Fassungslos konnte er nur noch zusehen, wie diese durch den Schild fiel. Er wollte hinterher, doch einem Dieb verwehrte die Grenze den Zugang. Die Tasche fiel immer weiter, sie durchbrach die Wolkendecke und entschwand seiner Sicht.
Entsetzen lähmte den Dieb, als ihm bewusst wurde, was soeben passiert war.
Nicht nur, dass er sich gegen seine Familie gestellt und den großen Sonnenvater bestohlen hatte. Nein, nun war ihm auch der Schatz verloren gegangen. Die Tasche hielt ein unsagbar kostbares Lebenslied gefangen. Es war eines der ältesten über das Licht des Lebens, die Kraft der Sonne und die Fruchtbarkeit. Wahrscheinlich hätte es auch ihn niemals gegeben ohne das Lied, das er soeben verloren hatte.
Die Tasche fiel durch den Himmel, bis sie mit einem Donnern auf den Erdboden prallte. Zum Glück hatte sich vom Sturz der Knoten geöffnet und das Lied konnte sich befreien.
Ein merkwürdiger Ort war dies, an dem es gestrandet war. Alles war so schnell gegangen und das Lebenslied hatte nicht gewusst, was ihm geschehen war. Es blickte zum Himmel und sah ganz klein und weit entfernt Großvater Sonne. Verzweiflung machte sich in ihm breit und die Furcht verschlug ihm die Stimme.
Lange harrte es im Schutz der Tasche aus, hoffte darauf, gefunden zu werden. Es versuchte um Hilfe zu rufen, aber es brachte keinen Ton hervor.
Als Tage vergangen waren, beschloss das Lied, sich umzusehen. Vorsichtig strich es zwischen Pflanzen umher, staunte über die großen Wesen, die in den Himmel ragten, und lauschte fremden Stimmen. Nach einer Weile wurde dem Lied bewusst, wo es sich befand. Diese großen Wesen, die ihre Arme hoch in die Lüfte hoben, wurden Bäume genannt. Und dann gab es da noch Berge aus Stein. Ihr Lied kannte es gut. Die vielen Stimmen, sie mussten den Tieren gehören und der Erde. Vater Sonne hatte in letzter Zeit oft von ihr gesprochen.
Das Lied atmete erleichtert auf. Irgendwann würde man es finden, daran hatte es keinen Zweifel. In der Zwischenzeit würde es diesen Ort erkunden, denn seine Vielfalt machte es ungeheuer neugierig.
Schon bald verstand das Lied die Faszination des Großvaters für diesen Ort nur allzu gut. Diese Erde, sie war wahrlich ein Juwel. Wunderschön und einzigartig. All diese kleinen und großen Pflanzen, die mächtigen Ozeane und weiten Steppen, die endlosen Wälder und die scheinbar leeren Wüsten. Gebannt beobachtete es, wie Wind und Feuer die Landschaft beständig veränderten und wie Erde das Land langsam umformte. Das Lied wanderte mit den Tieren umher, nahm teil an ihrem Leben. Und nach und nach fand es auch seine Sprache wieder.
Bis es am Ende gar nicht mehr gefunden werden wollte. Es war glücklich und frei. Es vergaß seine Geschwister und seine eigentliche Bedeutung: Die Fruchtbarkeit und die Erneuerung des Lebens.
Jedoch war ohne das Lied kein Leben möglich. Ohne es warfen die Tiere keine Jungen mehr, die Bäume schlugen keine neuen Triebe und die Farben begannen zu verblassen.
Als sich das Lied ein paar Tage später erneut auf Wanderschaft befand, hörte es ein seltsames Geräusch. Ein Summen, angenehm klingend und irgendwie wärmend. Das musste es sich näher ansehen.
Schließlich kam es auf eine Wiese, die noch in voller Blüte stand, und entdeckte unzählige kleine Wesen, die durch die Luft flogen. Geschickt landeten sie auf den einzelnen Blüten. Das Lied bemerkte, dass das Summen von den Flügeln der kleinen Wesen rührte, und verfolgte fasziniert, wie diese den Pollen der Blüten sammelten. Die kleinen Flieger bestäubten die Blüten. Ihnen war es zu verdanken, dass es alle diese wunderschönen Blumen und Pflanzen gab. Je länger das Lied die gestreiften Wesen beobachtete, umso vertrauter wurde ihr Summen. Es glaubte sogar Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Gesang zu entdecken. Traurigkeit überfiel das Lied, denn es konnte sich nicht erinnern, wann es zuletzt gesungen hatte. Aber wenigstens konnte es mittlerweile wieder sprechen.
Auf einmal entdeckten die kleinen Wesen das Lied. Freudig umtanzten sie es und ihr Summen wurde ein Singen. Das Lied fühlte, wie ihm leichter ums Herz wurde.
„Ihr Lieben“, meinte das Lied, „sagt mir doch bitte, wer ihr seid?“ Aufgeregt begannen die kleinen Wesen zu sprechen.
„Wir sind die Bienen, deine Kinder“, verkündeten sie fröhlich.
Nun war das Lied verwirrt. „Meine Kinder?“
Die Bienen summten zustimmend.
„Ja. Wir kennen dein Lebenslied und wir singen es jeden Tag, am liebsten, wenn die Sonne scheint, dann wachsen die Pflanzen besser. Wir helfen Mutter Erde“, verkündeten die Bienen stolz.
„Komm, wir zeigen es dir. Komm, komm.“
So zogen sie los, singend und tanzend und das Lied wurde fröhlich. Sie erzählten ihm vom Leben der Bienen, von Mutter Erde und ganz besonders von den Pflanzen, für die sie sorgten.
Tief beeindruckt blieb das Lied viele Mondzyklen beim Bienenvolk. Hier glich kein Tag dem anderen. Die fleißigen Bienen gingen ganz