Seinem Wesen nach ist der linkshändige Pfad derjenige der Nichtverschmelzung mit dem objektiven Universum. Er ist der Weg, das Bewusstsein innerhalb des subjektiven Universums zu isolieren und die Seele oder Psyche in der Weise einer selbst auferlegten Einsamkeit zu immer höheren Graden zu erheben. Das objektive Universum ist letztlich dazu geschaffen, mit dem Willen einer individuellen Psyche in Übereinstimmung zu gelangen, anstatt diesem seine Freiheit zu belassen. Während der rechtshändige Pfad theozentrisch ist (oder „alleozentrisch“, indem er den anderen in den Mittelpunkt rückt), ist der linkshändige psychozentrisch bzw. seelen- oder selbstzentriert. Wer auf dem linkshändigen Pfad wandelt, wird über das Wesen von Selbst, Ich oder Seele diskutieren, aber die Tatsache, dass das Individuum im Epizentrum dieses Pfades selbst steht, scheint eindeutig. Nach Auffassung des linkshändigen Pfades besteht eine ewige Trennung zwischen individuellem Geist und objektivem Universum. Daraus ergibt sich die Unsterblichkeit des unabhängigen Selbstbewusstseins, wenn es sich innerhalb des objektiven Universums bewegt und mit ihm nach seinem Willen verfährt.
Weiße und Schwarze Magie
Die Begriffe „Weiße Magie“ und „Schwarze Magie“ wurden durch den allgemeinen Sprachgebrauch so sehr verfälscht, dass sie, wie man wohl sagen muss, den größten Teil ihrer Bedeutung verloren haben. Ich möchte sie daher, um meine Terminologie zu verdeutlichen, vor dem Hintergrund eines sinnvollen philosophischen Kontextes neu interpretieren. Magie kann als eine Methode definiert werden, durch welche der Aufbau des subjektiven oder objektiven Universums aufgrund eines Willensaktes, der in der Psyche bzw. dem Herzen des individuellen subjektiven Universums seinen Ursprung hat, verändert wird. Die vielleicht bekannteste Definition hat der englische Magier Aleister Crowley vorgetragen, als er sagte: „Magie (Magick) ist die Wissenschaft und Kunst, eine Veränderung im Einklang mit dem Willen herbeizuführen.“2
Es gibt derzeit nicht eine einzige, von Wissenschaftlern und praktizierenden Magiern gleichermaßen allgemein akzeptierte Definition von Magie, noch herrscht eine Übereinstimmung hinsichtlich der Unterschiede zwischen Religion und Magie. Wenn man aber die meisten zeitgenössischen Theorien heranzieht, kann man als zusammenfassende Interpretation vorschlagen: Magie ist die willentliche Anwendung symbolischer Methoden, um Veränderungen im Universum aufgrund symbolischer Kommunikationsakte mit paranormalen Faktoren zu bewirken oder zu verhindern. Diese Faktoren können innerhalb oder außerhalb des subjektiven Universums des Handelnden liegen. Magie ist ein Weg, Dinge geschehen zu lassen, die ansonsten nicht geschehen würden. Religion kann von Magie allein durch die Einbeziehung des Wesens des menschlichen Willens unterschieden werden. In der Magie sieht man den Willen als primär an und spricht ihm eine reale und von der Außenwelt unabhängige Existenz zu. Der Magier veranlaßt das Universum, seinen Beschwörungen derart zu willfahren, dass es sich selbst mit seinem Willen in Übereinstimmung bringt, während in der Religion die menschliche Gemeinschaft danach strebt, ihr Verhalten nach einem universalen Muster auszurichten, von dem man annimmt, dass es auf Gott oder die Natur zurückgehe.
Genau genommen, besteht der Unterschied zwischen Weißer und Schwarzer Magie einfach darin, dass es sich bei Weißer Magie um eine psychologische Methodenlehre mit dem Zweck handelt, eine Vereinigung mit dem Universum herbeizuführen und Ziele in Harmonie mit denen des Universums zu formulieren, während Schwarze Magie als Methodologie der Erlangung von Unabhängigkeit vom Universum und der Aufstellung am eigenen Selbst orientierter Ziele dient. Strukturell hat Weiße Magie viel mit Religion, wie wir sie oben definiert haben, gemeinsam; demgegenüber ist Schwarze Magie an und für sich in stärkerem Maße als eigentliche Magie zu betrachten. Daraus folgt, dass Magie als Summe von Verhaltensweisen von orthodoxen religiösen Systemen oft verurteilt wurde.
Die historischen Formulierungen von Weißer und Schwarzer Magie werden weiter unten diskutiert, aber zum Zweck eines präzisen Verständnisses werde ich „Weiße Magie“ zur Bezeichnung der spirituellen Methodologie oder Technik des rechtshändigen Pfades verwenden und „Schwarze Magie“ für die des linkshändigen Pfades reservieren.
Herren des linkshändigen Pfades
In diesem Buch stelle ich die Gedanken und Biografien vieler Magier und Philosophen in Vergangenheit und Gegenwart vor. Einige werden gemeinhin als „böse“ und „satanistisch“ angesehen, während andere durch die Geschichte gingen, ohne mit einem solchen Vorurteil behaftet zu sein. Aber Vorstellungen stimmen selten mit der Realität überein, auch wenn die Madison Avenue oder Washington DC Sie dies glauben machen wollen. Letztlich wird man einige dieser Gestalten, nach eingehender Analyse, nicht als Praktizierende des linkshändigen Pfades ansehen können. Die Kriterien, die ich zur Abgrenzung des eigentlichen Wesens des linkshändigen Pfades von scheinbar Zugehörigem anwende, müssen an dieser Stelle klar benannt werden. Einige der in diesem Buch behandelten Figuren erfüllen eine Reihe dieser Kriterien, aber doch nicht genug, um als „Herren“ oder „Meister“ des Pfades bezeichnet werden zu können.
Es gibt zwei Hauptkriterien, um jemanden als wahren Herrn (oder wahre Herrin) des linkshändigen Pfades zu identifizieren: Selbstvergöttlichung und Antinomismus. Das erstgenannte ist recht komplex: Das Gedankensystem, das ein Magier oder Philosoph vertritt, muss eines sein, welches die individuelle Selbstvergöttlichung, vorzugsweise beruhend auf einem magischen Initiationsschema, befördert. Wir werden sehen, dass zu diesem ersten Kriterium fünf verschiedene Aspekte gehören:
1. Selbstvergöttlichung: Das Erlangen eines erleuchteten (oder erwachten), unabhängig existierenden Intellekts und dessen relative Unsterblichkeit.
2. Individualismus: Der erleuchtete Geist ist derjenige eines Individuums, nicht eines Kollektivwesens.
3. Initiation: Die Erleuchtung und unerschütterliche Haltung, die zum Erreichen der angestrebten Entwicklungsstufe des Selbst notwendig sind, werden vom Magier durch dessen Willen Schritt für Schritt erlangt, und nicht, weil er oder sie von Anfang an schon „göttlich“ waren.
4. Magie: Die Praktizierenden des linkshändigen Pfades wenden, nach ihrer Anschauung, ihren Willen im Rahmen eines zweckmäßig eingerichteten Systems oder einer spirituellen Technik an, die dazu entwickelt wurde, das sie umgebende Universum mit ihrem selbständig geschaffenen Modell in Übereinstimmung zu bringen.
Das zweite Kriterium, der Antinomismus, besteht darin, dass sich die Praktizierenden für Opponenten gegen die grundlegenden Übereinstimmungen, den „Kern“, ihrer kulturell konditionierten und konventionalisierten Normen von „gut“ und „böse“ halten. Wahre Herren und Herrinnen des linkshändigen Pfades haben den spirituellen Mut, ihre Ziele mit den kulturellen Normen des „Bösen“ zu identifizieren. Sie werden die Symbole des konventionell „Bösen“, der „Unreinheit“ oder der „Rationalität“ oder sonstiger Qualitäten, die in ihrer Kultur üblicherweise gefürchtet und abgelehnt wird, bejahen. Die Herren und Herrinnen des linkshändigen Pfades werden sich selbst von ihren Mitmenschen abkehren; sie werden tatsächlich oder im übertragenen Sinne als Außenseiter leben, um diejenige Art von innerer Unabhängigkeit zu erreichen, die für die initiatorische Arbeit im Sinne des ersten Kriteriums nötig ist. Die Praxis, die diesem zweiten Kriterium entspricht, manifestiert sich oft in „Antinomismus“, d. h. in der absichtlichen Zurückweisung konventioneller normativer Kategorien: „böse“ wird zu „gut“, „unrein“ zu „rein“, „Dunkelheit“ zu „Licht“.
Anders gesagt, der Antinomismus impliziert etwas „Ungesetzliches“. Aber der Praktiker des linkshändigen Pfades ist kein Krimineller im gewöhnlichen