Vimalananda unterscheidet zwischen zwei „Wegen“: dem Weg des Jnana (Wissen) und dem des Bhakti (Andacht). Wenn ein Schüler dem Weg des Jnana folgt, trennt er sich, wie man sagt, von seinem gewöhnlichen Körper und vereinigt sich selbst mit seinem „kausalen Körper“; von diesem Zeitpunkt an befolgt man die Weisungen (Adesha) eines inneren Guru. Wenn man andererseits den Bhakti-Weg geht, behält man die kontinuierliche Hingabe an ein Wesen bei, das außerhalb seiner selbst wahrgenommen wird. Hinsichtlich der Frage nach der Einheit mit einer Gottheit (in diesem Fall Krishna) sagt Vimalananda: „Aber die meisten Verehrer Krishnas wollen sich niemals mit ihm vereinigen; sie wünschen allesamt ihre eigenen Identitäten zu behalten, um seine Süßigkeit immer und immer wieder, für immer und ewig, zu schmecken.“40
Mit Bezug auf die Perspektive des linkshändigen Pfades fügt Svoboda hinzu, dass „man auf dem Weg des Jnana selbst Shiva wird, während man ihn auf dem Weg des Bhakti nur verehrt, aber von ihm unterschieden bleibt.“41 Diese Differenzierung ist von großer Bedeutung und sollte genau verstanden werden. Sie scheint für den linkshändigen Pfad von universeller Geltung zu sein. Auf dem Weg des Jnana verwandelt sich der Praktizierende selbst in ein Wesen von göttlicher Art, ohne seine eigene individuelle Existenz zu heiligen, während der Anhänger des linkshändigen Bhakti-Pfades danach strebt, seinem göttlichen Gegenüber nahe zu kommen und in der Gegenwart dieser Gottheit zu leben, ohne sich mit ihr zu vereinigen.42
Antinomismus findet sich in vielen Schulrichtungen des linkshändigen Pfades überall auf der Welt. In jeder Schule haben Philosophie und Praxis ihren eigenen Seinsgrund, aber allen liegt das Gebot des linkshändigen Pfades zugrunde, sowohl das eigene Selbst als auch die eigene Welt zu verwandeln. Um etwas zu verwandeln, muss man seine alte Form erst auflösen, bevor man ihm seine neue, gewünschte Gestalt geben kann. Um etwas zu re-konstruieren, muss es zunächst de-konstruiert werden. Diese postmoderne Auffassung ist in Wahrheit ziemlich alt.
Im Hinblick auf Antinomismus und den Tantrismus des linkshändigen Pfades stellt der französische Indologe Louis Renou fest: „Wir beobachten eine Umkehr normaler Andacht und normaler ethischer Grundsätze. Die Tatsache, dass dergleichen nun Gegenstand religiöser „Verehrung“ ist, zeigt eindeutig, dass eine Schwelle überschritten wurde, bis zu welcher jene Dinge als sündhaft wahrgenommen wurden.“43 Daher finden Gegenstände oder Praktiken, die bei einem orthodoxen Hindu (Dakshinachara) gewöhnlich Scham, Hass oder Furcht hervorrufen würden, bereitwillige Huldigung und werden mit einer sublimierten Aura der Heiligkeit versehen, um die sogenannten drei Knoten Scham, Hass und Furcht zu lösen. „Das grundlegende Prinzip des linkshändigen Pfades besteht darin, dass ein spiritueller Fortschritt nicht durch die falsche Verdrängung unserer Begierden und Leidenschaften zu erzielen ist, sondern durch eine Läuterung dieser starken Triebe, die uns überwältigen können, zu Mitteln der Befreiung.“44
Nach Daniélou unterrichtet uns das Kularnava-Tantra darüber, dass „der Herr der Tränen (Rudra) in den Lehren des linkshändigen Pfades dargelegt hat, inwiefern spirituelle Entwicklung am besten durch solche Mittel erreicht werden kann, die den Untergang des Menschlichen bewirken.“45
In seiner Erörterung des Kulavana Tantra weist Evola darauf hin, dass die Arbeit eines Vira auf seinem Weg, ein Divya zu werden, in der Reinigung seines Willens besteht (Icchashuddhi). Diese Reinheit wird als nackt, transzendent, fähig zur Selbstbestimmung, jenseits aller einander entgegengerichteten Werte und Gegensatzpaare charakterisiert. Während der Ausübung von Icchashuddhi sollen die folgenden acht Fesseln systematisch zerrissen werden: daya (Sympathie), moha (Täuschung), lajja (Scham oder der Begriff von Sünde), bhaya (Furcht), ghrina (Abscheu), kula (Familie, Verwandtschaft, Clan), varna (Kaste) und sila (gewohnte Sitten und Anschauungen).46 In dem Maße, in dem diese Fesseln abgeworfen werden, wächst die Freiheit des Vira.
Wie wir später in Kapitel 9 sehen werden, weist diese Technik des Icchashuddhi in vielerlei Hinsicht auf Anton LaVeys Weisung an seine Anhänger voraus, den „sieben Todsünden“ des Christentums zu frönen: Habgier, Stolz, Neid, Zorn, Völlerei, Begierde und Faulheit – um sich dadurch selbst ganz ähnlich von den Prägungen der modernen westlichen Zivilisation zu befreien.47
Der Grund, warum solche Techniken als effektiv für die Praxis des Hinduismus angesehen werden, liegt zum Teil darin, dass wir heute in dem als Kali Yuga bezeichneten Zeitalter leben: in einer Epoche der Weltgeschichte, die durch Materialismus und fehlendes Interesse an spirituellen Angelegenheiten gekennzeichnet ist. In einem solchen Zeitalter „kann allein die Leidenschaft, wenn sie zielführend eingesetzt wird, Egoismus, Hochmut und schnöde Berechnung überwinden. Sie allein hat die Kraft, den Menschen aus den Fängen, die ihn an seine Neigungen und Überzeugungen fesseln, zu befreien.“48
Die eigentliche Bedeutung des Antinomismus liegt darin, inwiefern er sich auf die individuelle Seele (Jivatman) und deren Transformation in ein göttliches Wesen bezieht. Sie hängt mit der Einheit der Persönlichkeit mit ihrer personalen Göttlichkeit, dem Jivatman selbst, zusammen. Die Begrenzungen oder Fesseln schränken das Selbst (Jivat) sowohl innerlich als auch äußerlich ein. Eine Verbindung des Selbst mit dem Jivatman ist so lange unmöglich wie die acht Fesseln den Willen des Vira einengen.
Obwohl nichts davon im tantrischen Kontext mit schlichtem „Egoismus“ gleichzusetzen ist, kann ein Element eines „göttlichen Egoismus“ in der Lehre wahrgenommen werden, dass das westliche – rote und Vamadeva („linkshändige Gottheit“) genannte – Gesicht Shivas gleichgesetzt wird mit „Ichheit“, dem Ahamkara, das mit Feuer, Sicht und Tätigkeit assoziiert wird.49
Ein solcher radikaler Individualismus ist für den linkshändigen Pfad charakteristisch. Svoboda bemerkt, dass die Suchenden „versuchen sollen, ihren Drang nach Individuation von Maya [Bewusstlosigkeit/Objektivität] Richtung Chit [Bewusstsein/Subjektivität] zu leiten, “ und sich nicht erlauben dürfen, weiterhin mit dem Strom ihres Lebens oder dem des Lebens ihrer Nachbarn zu schwimmen.“50 Weiterhin stellt er fest: „Aghoris [Anhänger der linkshändigen Aghora-Tradition] gestatten sich niemals, eine passive Begrenzung ihrer äußeren Umgebung zu dulden; sie nehmen selbst die Begrenzungen vor und definieren dabei ihre Umgebung.“51 In gewisser Weise an das kosmo-psychologische System von G.I. Gurdjeff (das wir in Kapitel 8 behandeln) anknüpfend, behauptet Svoboda außerdem:
Wir alle sind Teile des Universums, wie es sich manifestiert, und sind seinen Gesetzen solange unterworfen, bis wir die Kraft entwickelt haben, uns selbst in anderen Begriffen neu zu definieren. Ein Tantriker strebt danach, sva-tantra (‚aus sich heraus gestaltend’), frei von allen Begrenzungen, einschließlich denen der eigenen Persönlichkeit, zu werden.52
Bemerkenswert ist der kreative Aspekt der Praktiken des linkshändigen Pfades in vielen Schulen auf der ganzen Welt und zu jeder Zeit. Den linkshändigen Pfad zu gehen, heißt nicht einfach, ein „Programm“ festzulegen und diesem gemäß zu arbeiten. Auf dem Weg nach links verehrt man nicht einen Gott, sondern schafft Göttlichkeit aus einer subjektiven Perspektive. Hinsichtlich der Entwicklung der Lehren innerhalb der Aghora-Schule sagt Svoboda: „Vorschriften [sind] nicht in Steintafeln graviert, sondern in das Herz des jeweiligen Praktizierenden, der sie anwenden muss, um ein individuelles System hervorzubringen, indem er sich seine eigene spirituelle Nische meißelt.“53
Insbesondere für Männer schließt der Antinomismus den Drang nach der „Verehrung“ einer Göttin ein. Der Vamacharin huldigt der Göttin aber nicht einfach in der Gestalt einer Frau, sondern versucht selbst, eine Frau zu werden. Dies kann seine Wurzeln in einer historischen Entwicklungsstufe haben, auf der Männer die priesterliche Funktion von Frauen übernahmen und daher „Frauen werden“ mussten, um diese Aufgabe mit einer zeitlosen Autorität auszufüllen. Belege für diese Vermutung können in solchen Kultpraktiken gesehen werden, bei denen Priester anläßlich bestimmter Riten Frauenkleider tragen, oder in den Mythen und Legenden, die von Männern handeln, welche sich in Frauen verwandeln.54 Auf einer bestimmten geschichtlichen Stufe mag dies zutreffen;