Jeder des anderen Feind. Eike Bornemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eike Bornemann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783941935808
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      Der Sprecher schien auf diese Frage vorbereitet zu sein. Seine Antwort kam ohne das geringste Zögern.

      »Die Unterstützung erfolgt in erster Linie logistisch, durch Schiffe, Hubschrauber, Räumfahrzeuge und Transporter. Allerdings stehen unsere Streitkräfte auch bereit, unsere Polizei bei Absperrungen und Objektschutz zu unterstützen. Sie haben eine Frage?«

      »Danke. Bedeutet das auch die Übernahme hoheitlicher Befugnisse?«

      »Davon können Sie ausgehen. Selbstverständlich dürfen unsere Streitkräfte im Rahmen ihrer Aufgaben Durchsuchungen und Verhaftungen vornehmen.«

      »Halten Sie das nicht für gefährlich?«

      »Inwiefern?«

      »Nun, die Bundeswehr ist für polizeiliche Aufgaben nicht ausgebildet.«

      Der Pressesprecher richtete einen Zeigefinger auf den Fragesteller. Er hatte dabei Ähnlichkeit mit einer Plakat-Karikatur von Uncle Sam, der zur Einberufung animiert.

      »Lassen Sie mich eines klarstellen: Ich setze vollstes Vertrauen in die Professionalität unserer Streitkräftebasis. Im Übrigen arbeitet sie eng mit unseren zivilen Stellen zusammen.«

      Mir fiel auf, wie oft der Staatssekretär den Begriff unsere gebrauchte.

      In der ersten Reihe wurde erneut eine Hand gehoben. »Es erreichen uns Meldungen über Plünderungen. Können Sie uns dazu Näheres sagen?«

      »Es ist vereinzelt zu Vorfällen gekommen, ja, aber entgegen allen Prognosen und Spekulationen ist es verhältnismäßig ruhig geblieben. In Krisenzeiten überwiegen in Solidargemeinschaften – lassen Sie mich das ganz deutlich sagen! – pro-soziale Reaktionsmuster und altruistische Verhaltensweisen.«

      Er brachte die Sätze so flüssig heraus, als hätte er sie vorher hundertmal geübt.

      »So haben etliche Supermärkte ihre Türen geöffnet und Lebensmittel unentgeltlich an die Bevölkerung verteilt. Zu Wucher-Verkäufen ist es meines Wissens nicht gekommen.«

      »Stimmt es, dass wegen des Blackouts schon tausende Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen werden mussten?«

      Der sonore Tonfall wirkte auf mich zunehmend einlullend. Was er von sich gab, wurde zu einem Wortbrei, aus dem von Zeit zu Zeit einzelne Phrasen aufstiegen. »Diese Frage … der jeweiligen Bundesländer … Pressekonferenzen, die … bin zuversichtlich, dass … Stärke des Landes … gemeinsame Herausforderungen …«

      Ich hatte seit Tagen kaum geschlafen und wollte uns beiden die Peinlichkeit ersparen, mitten in seinen Ausführungen aus einem Halbschlaf aufzuschrecken. Ich stand auf und verzog mich ins Bistro.

      Offenbar war ich nicht der Einzige, der auf die Idee kam, sich abzusetzen. An den Futternäpfen hatten sich weitere Reporter eingefunden.

      Ich ging den Kettenhunden von der Yellow Press aus dem Weg, deren geistiger Zustand sich am ehesten mit dem von Rauschgiftsüchtigen auf Entzug vergleichen ließ. Nachrichten waren rar. Kein Wunder, dass jeder Reporter der Stadt, mich eingeschlossen, nach den seltenen Nuggets der Wahrheit schürfte. Die Neurosen blühten und in den Kantinen machten Gerüchte die Runde. Zum Beispiel, dass es in Wirklichkeit gar kein Sonnensturm war, der den halben Kontinent ins vorindustrielle Zeitalter zurückgebeamt hatte, sondern ein Angriff der Russen, Chinesen, Amis oder von den kleinen grünen Männchen vom Mars.

      Während ich mich in der Schlange anstellte, lauschte ich den Unterhaltungen der Reporter.

      »Hast du den Quadrat-Unsinn mitgekriegt?«, fragte ein Typ seinen Nebenmann.

      »Du meinst die lahme Story von den Supermärkten, die aus lauter Menschenfreundschaft ihre Lebensmittel verteilt haben?«

      Der Angesprochene schnaufte verächtlich. »Sind das etwa dieselben, die vor dem Blackout die Leute wegen Containern verklagt haben?«

      »Immerhin war’s das Schlauste, was sie machen konnten. Stunden später hätten die Leute ihnen eh die Schaufenster eingeschmissen.«

      »Ohne Kühlung wäre das Zeug sowieso vergammelt. – Und der Typ faselt was von Altruismus! Was wir jetzt dringend brauchen …«

      Was er und seine Agentur brauchten, bekam ich nicht mehr mit. In dem Moment, wo sie ihre Rationen ergattert hatten, zogen sie sich in Richtung der Tischreihen zurück. Ihr Geschnatter entfernte sich.

      Die Küchenkraft wirkte wie jemand, der schlafwandelt. Ich musste meine Bestellung zweimal wiederholen, ehe sie sich in Bewegung setzte und nach hinten schlurfte. Nach einer Ewigkeit konnte ich endlich ein königliches Bankett in Empfang nehmen, an dem Thilo Sarrazin seine Freude gehabt hätte, als er noch Berliner Finanzsenator war. Ein Teller Hühnersuppe, zwei belegte Brötchenhälften und einen Pappbecher mit heißem Wasser, in dem ein Teebeutel schwamm; dazu zwei Zuckerwürfel – die Standardration, die meinen Organismus bis zum Abend am Leben erhalten würde.

      Ich nahm mein Tablett und schaute mich nach einem Sitzplatz um. Mein Blick blieb an einer Uniform hängen, deren Besitzer abseits an der Fensterfront saß und mir lässig mit einer Hand zuwinkte. Ich musste zweimal hinschauen, ehe ich ihn erkannte.

      »Milton!«

      In den letzten Tagen fragte ich mich oft, wo er steckte und was er so trieb. Am ersten Tag des Blackouts hatte ich vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Das Handynetz war völlig überlastet. Sechs Stunden später, als die letzten mit Notstrom betriebenen Basisstationen ihren Dienst quittiert hatten, war dann endgültig Schicht im Schacht.

      Milton gehörte zu den Menschen, die sich in einer Menge bewegen konnten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Wäre ich jemals auf die Idee gekommen, ihn in eine Geschichte einzubauen, hätte ich ihm vermutlich die Rolle des Schnüfflers angedichtet.

      Nun allerdings wirkte er verändert. Nicht nur, dass er Uniform trug, auch seine Haltung war neu, gestraffter. Er erinnerte mich an eine Schlange, die sich gehäutet hatte. Seltsam, was eine Uniform aus einem Menschen macht.

      Er schob mir einen Stuhl zu. »Was treibst du so? Bist du immer noch bei der Feldzeitung?«

      »Immer noch.«

      »Ein Papiertiger«, lachte er.

      »Gibt Leute, die das wichtig finden.«

      Komisch, ich hatte das Gefühl, meine Arbeit verteidigen zu müssen, obwohl die mir im Grunde nichts mehr bedeutete. Ich war kein guter Journalist. Nicht mal jetzt brachte ich die Wahrheit raus. Aber war das nicht meine Aufgabe?

      »Was ist mit dir?«, fragte ich ihn. »Wie kommst du zurecht?«

      »Womit?«

      Ich breitete die Arme aus. »Na mit allem. Mit der Katastrophe.«

      »Katastrophe?« Milton hob eine Braue. »Junge, die Zerstörungen nach dem letzten Weltkrieg – das war eine Katastrophe! Das Land am Boden. Trotzdem ging’s irgendwann wieder aufwärts.«

      »Dank des Marshallplanes«, wandte ich ein, »weil die Amis eine Basis gegen den bösen Kommunismus brauchten.«

      »Und so wird’s auch diesmal sein«, erwiderte er unbekümmert. »Wir sind noch lange nicht am Ende der Welt angelangt.«

      »Was macht dich so sicher?«

      »Ich glaube an den Kapitalismus, mein Freund. Ein echt geniales System. Nicht totzukriegen, egal was passiert.« Er hob die Hände, die Handflächen nach oben wie ein Prediger. »Ich glaube an den Fleiß und den Optimismus, an Innovation, Kreativität, Mut und harte Arbeit, an die Gier, an Gewinn und Wachstum.«

      Milton war stockkonservativ. Gegen ihn war Potter Huntington ein Waisenknabe. Sein Hohelied auf den Kapitalismus hätte gut und gern als Leitartikel eines Wirtschaftsmagazins getaugt. Ich winkte ab, bevor er noch auf die Idee kam, mir irgendwas verkaufen zu wollen, eine Versicherung zum Beispiel. Milton war der Typ, der einem alles andrehen konnte. Sein Optimismus überrollte einen geradezu. Er erinnerte mich an den Frosch aus dieser altbackenen