Die Kunst und Philosophie der Osteopathie. Robert Lever. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Lever
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783941523739
Скачать книгу
der Physiologie => maximale Verdrängung der Leiden (…pathie)=> Heilung durch die Natur.

      Abgesehen von der vitalistischen Prämisse sind die in Stills Ansatz berücksichtigten anatomisch-physiologischen Grundannahmen inzwischen vor allem durch Forschungsarbeiten im Bereich der Immunologie, Neurophysiologie und funktionellen Anatomie bestätigt worden. Stills äußerst komplexer Ansatz ist allein schon durch diese klare Benennung anatomisch-physiologischer Zusammenhänge im vitalistischen Ansatz und seine daraus entwickelten manuellen Techniken nicht nur für die damalige Zeit bemerkenswert und visionär. Mit der folgerichtigen Zusammenführung von Anatomie/​Physiologie und der inhärenten Selbstregulationsmechanismen im Körper, sowie durch seine Überzeugung, dass Behandler, Methode und Patient als Teil der göttlichen Schöpfung stets eine Einheit bilden, antizipiert er darüber hinaus auch die Möglichkeit der Verschmelzung all dieser Aspekte. Dass Still mit seiner Klassischen Osteopathie die meisten seiner Zeitgenossen aufgrund seiner komplexen Überlegungen überforderte, liegt auf der Hand. Und so verschwand Stills salutogenetischer bzw. vitalistischer Ansatz innerhalb der Osteopathie schon nach wenigen Jahren wieder und wurde durch eine marktkompatiblere, weil pathogenetisch orientierte Osteopathie ersetzt, die sich auf simple Methoden zur Behandlung vorrangig muskuloskelettaler Symptome beschränkte.

      Es sollten mehrere Jahrzehnte vergehen, bis William Garner Sutherland (1873 – 1954) ab Mitte der 1930er Jahre und wohl ebenfalls nachhaltig inspiriert durch Emanuel Swedenborg Stills salutogenetischen bzw. vitalistischen Aspekt wieder aufgriff und um den kraniosakralen Aspekt erweiterte, womit er die sogenannte Kraniale bzw. Kraniosakrale Osteopathie begründete. Sutherland war es auch, der die (innere) Stille und die Verbindung zwischen Behandler, Patient und jener übergeordneten Instanz als essenzielle Bestandteile einer Behandlung erstmalig innerhalb der Osteopathie benannte. Sein berühmtester Schüler, Rollin E. Becker (1910 – 1996), führte diesen Aspekt fort und wurde damit zum Wegbereiter eines der heute umstrittendsten Zweige der Osteopathie – der energetisch orientierten Biodynamischen Osteopathie. Wie auch schon bei Still steht hier die Interaktion zwischen Therapeut und Patient mit all ihren subjektiven Phänomenen wieder Zentrum der Behandlung. Und da diese mit der klassischen Physik kaum oder gar nicht zu erfassen sind, dies aber v. a. von den eher strukturell und pathogenetisch orientierten Osteopathen eingefordert wird, ist es zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Osteopathie gekommen. An dieser Stelle kommt nun Robert Levers Buch ins Spiel, das nach Nicholas Handolls Die Anatomie der Potency und Paul Lees Interface die dritte und m. E. weitestentwickelte Monografie zu diesem Themenkomplex repräsentiert und auch als Aufruf zur Versöhnung zu verstehen ist.

      METAPHYSISCHE BEGRIFFLICHKEITEN

      Bei allen Übersetzungen englischsprachiger Werke über die Osteopathie begegnet man Schwierigkeiten in puncto Ausdeutung bestimmter Begrifflichkeiten, insbesondere, wenn sie sich auf metaphysische Sachverhalte beziehen. Sehr häufig werden dieselben metaphysisch relevanten Begriffe in unterschiedlichster Bedeutung verwendet. Um den Lesern hier zumindest eine einigermaßen klare Struktur zu vermitteln, wurden bei der Übersetzung die nachfolgenden Konventionen festgelegt. Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass englischsprachige Wörter, die normalerweise klein geschrieben werden, bei Großschreibung auf einen göttlichen Ursprung hinweisen (z. B. Mind statt mind). Da diese Schreibgewohnheit bei Substantiven nicht auf deutsche Begriffe übertragbar ist (sie werden ja bereits groß geschrieben) wurden die entsprechenden Worte in Kapitälchen gesetzt:11

      1. Spirit/Mind bzw. spirit/​mind

      Spirit (mit großem S im Originaltext) => SEELE, GEIST

      Beschreibt den rein ‚himmlischen‘ Anteil der Metaphysik einer Person.

      Mind (mit großem M im Originaltext) => INTELLIGENZ, VERSTAND

      Eine höhere Intelligenz, die durch den irdisch-metaphysischen Anteil des Menschen (das Mentale) über anatomisch-physiologische Medien, wie etwa das Gehirn, die Körperflüssigkeiten, die Faszien etc. in den Körper vermittelt wird und die Selbstregulation in Richtung Gesundheit bestimmt. Nur dieser Mind kann heilen.

       2. spirit/​mind => Mentales

      Irdische Aspekte des Menschen, wie Intelligenz und Verstand, aber auch Intuition und Wahrnehmung bzw. Empfindung in Ihrer Gesamtheit.

      3. mind => Verstand bzw. Intelligenz

      Der rein irdische Aspekte des Mentalen.

      POTENCY

      Wie besonders in der englischsprachigen Literatur über Osteopathie finden sich auch bei Lever zahlreiche eigene Wortschöpfungen, die vor allem aus der Not heraus entstehen, dass man bestimmte Phänomene und Erfahrungen während des Spürens der Patienten nur schwer fassen und ausdrücken kann. Bei den meisten Begriffen gelingt es eine deutschsprachige Übersetzung zu finden, die den Sinn des Originals treffend ausdrückt. Dies ist bei dem Begriff Potency nicht möglich, weshalb er – wie in allen anderen Büchern von JOLANDOS – nicht übersetzt wurde.

      ABWEICHENDE FORMATIERUNGEN

      Bezüglich der englischen Originalausgabe wurden einige Umstrukturierungen vorgenommen, um den Inhalt des Buches einerseits übersichtlicher zu gestalten und andererseits den deutschen Sprachgewohnheiten anzupassen. Dies betraf u. a. die Reduzierung der ursprünglich über 1.200 Begriffe in einfachen Anführungszeichen, aber auch die Implementierung eines Abkürzungsverzeichnisses und die Ergänzung des Originaltextes mit Anmerkungen der Übersetzerin, des Lektors und des Herausgebers. Außerdem wurden die Quellenhinweise am Ende der einzelnen Kapitel gesammelt ebenfalls ans Ende des Haupttextes gestellt.

      VIER ANMERKUNGEN

      Karl Popper12 hat einmal ganz richtig festgestellt, dass eine Theorie umso mehr Wert hat, je mehr Möglichkeiten sie zur vernünftig begründeten Überprüfung bzw. Kritik bietet.13 In diesem Sinn möchte ich betonen, dass es bei der nachfolgenden Kritik nicht darum geht, den Inhalt des vorliegenden Buchs oder seinen Autor zu diskreditieren; vielmehr bietet es neben vielen brillanten und tiefgreifenden Überlegungen zur Osteopathie auch und gerade aufgrund seiner Angreifbarkeit in bestimmten Punkten die unschätzbare Möglichkeit zur selbstkritischen Weiterentwicklung der Osteopathie. Zudem können die nachfolgenden Anmerkungen 1 und 2 nahezu auf die gesamte osteopathische und die Anmerkungen 3 und 4 auf die naturheilkundliche Literatur übertragen werden.

       1. Osteopathie und Medizin

      Lever schätzt die Osteopathie, wie übrigens die meisten Osteopathen, als Alternative zur orthodoxen Medizin, zumindest aber als Komplementärmedizin ein. Tatsächlich könnte man bei oberflächlicher Ausdeutung von Stills Texten annehmen, dass er die Osteopathie als Gegenmodell zur regulären Medizin ansah, da er die Methoden der ‚heroischen’ Medizin jener Zeit an vielen Stellen kritisiert. Bei vertiefter Textanalyse erkennt man aber, dass Still die Osteopathie stets als integralen Bestandteil der Medizin ansah, wobei er die Philosophie der Osteopathie als Erweiterung (nicht: Ergänzung, d. h. komplementär) des ausschließlich pathogenetischen Denkens um den weit umfassenderen salutogenetischen Aspekt betrachtete. Deutlich zum Ausdruck kommt dies in der Gründungssatzung seiner American School of Osteopathy aus dem Jahr 1892. Dort steht zu den Zielen der Schule:

       „Unsere gegenwärtigen Methoden der Chirurgie, der Geburtshilfe und der Bekämpfung von Krankheiten im Allgemeinen zu verbessern.“ 14

      Still hatte demnach stets zum Ziel, dass seine Osteopathie fester Bestandteil der Medizin sein sollte und hoffte darauf, dass dies von der regulären Medizin irgendwann anerkannt werden würde. Eine Ausdeutung von Stills Klassischer Osteopathie als Alternativ- oder Komplementärmedizin ist damit aus medizinhistorischer Sicht falsch.

       2. Osteopathie – eine neue Medizinphilosophie

      Lever behauptet, Still habe eine neue Medizinphilosophie entdeckt. Abgesehen davon, dass die Ausführungen im vorigen Punkt dies bereits widerlegen, wurde sein auf dem Fundament des Vitalismus errichtetes und grundlegend salutogenetisch ausgerichtetes Gedankengebäude bereits in den Hippokratischen Schriften ausführlich beschrieben und diente seit jeher als Grundlage sämtlicher nachfolgender