Stein mit Hörnern. Liselotte Welskopf-Henrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Исторические приключения
Год издания: 0
isbn: 9783938305645
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Patient gab keinerlei Zeichen von Schmerzempfindung.«

      »Bewusstlos, als er gebracht wurde?«

      »Scheinbar.«

      »Scheinbar. Er ist aber jetzt bei Bewusstsein. Es ist mir nur unbegreiflich, wie er diese Schmerzen aushält, ohne zu schreien. Hat er gesprochen?«

      »Nein. Was ich über den Hergang und die Familie weiß, berichteten die Frau, der Pflegesohn und Mrs Crazy Eagle.«

      »Name?«

      »Joe King.«

      »Mrs Crazy Eagle, bitte.«

      Als die Dolmetscherin anwesend war, sprach Sligh den Patienten an: »Hallo! King! Sehen Sie mich an!«

      Der Patient rührte sich nicht.

      Sligh schob mit dem Finger vorsichtig ein Lid hoch. »Ich wette, dass er mich sieht. – King! Machen Sie den Mund auf!«

      Der Patient rührte sich nicht. Das Lid war wieder heruntergegangen. Sligh versuchte überraschend, mit der einen Hand den Kopf nach hinten, mit der anderen den Unterkiefer herunterzudrücken.

      Der Kiefer rührte sich nicht, als ob Starrkrampf eingetreten sei. Doch konnte sich Sligh nicht von dem Eindruck losmachen, dass die Zähne bewusst aufeinander gebissen waren und der Patient sich auf den Griff des Arztes noch schneller eingestellt hatte, als dieser ihn ausführte.

      »Warum simuliert er? Mrs Crazy Eagle, kennen Sie diesen Mann?«

      »Ja.«

      »Wer ist das?«

      »Ein erfolgreicher Rancher – Büffelranch, Pferdezucht –, Rodeo-Sieger.«

      »Und verdammt, können Sie sich erklären, warum er nichts von uns wissen will?«

      »Ich kann es mir nicht erklären.«

      »Ganz auf Medizinmänner eingestellt?«

      »Das glaube ich nicht.«

      »Wollen Sie versuchen, in seiner Muttersprache mit ihm Kontakt zu bekommen?«

      »Er spricht gut Englisch.«

      »Wieso ist er tätowiert?«

      »Das ist wohl eine Privatsache.« Bei ihrer Antwort senkte die Dolmetscherin die Augenlider. Mit dieser Reaktion verriet sie wider Willen und zum ersten Mal während einer Information für den Chefarzt, dass sie ihre Gedanken verbergen wollte.

      »Was bedeuten der Stern und die merkwürdige Zeichnung darunter?«

      »Es sind Symbole aus dem Stammesglauben.«

      »Zeichen von geheimen Zauberbünden?«

      »Das weiß ich nicht.«

      Sligh besaß Menschenkenntnis genug, um zu spüren, dass er zu diesem Punkt nicht mehr erfahren würde. Er schaltete um. »Wenn ihm einer das Rückgrat hätte mehrfach brechen wollen, könnte es nicht schlimmer aussehen. Die Aufnahme zeigt auch einen eingedrungenen Fremdkörper – Nadel oder dergleichen. Ich muss sofort operieren, sonst geht er ein. Bereiten Sie alles vor, Landis. In einer halben Stunde bin ich wieder hier.«

      Roger Sligh pflegte Dienst und Privatleben auch in Gedanken streng zu trennen. Doch wurde er an diesem Tag das Bild seines neuen Patienten nicht los, während er ein Kalbsteak und gemischten Salat, milde zubereitet, verzehrte.

      In diesem Joe King schien ihm ein Mensch mit wahrhaft indianischer Psyche zu begegnen.

      Sligh war nach dem Lunch etwas früher, als er angesagt hatte, im Krankenhaus zurück, ein Tatbestand, den es nur äußerst selten in seinem Leben gab.

      Der junge Indianer wurde narkotisiert, und der Chefarzt operierte den ersten schwierigen Fall seiner Hospitalpraxis in der Prärie mit Sorgfalt, mit seinem privaten, durch die besten Instrumente aus aller Welt ergänzten Besteck, mit jenem bewundernswerten Geschick, dessen er bei hoch zahlenden Patienten fähig gewesen war. Das Röntgenbild und eine etwa gelingende Operation genügten, um seinen Ruhm als Chirurg künftig weiter blühen oder, wenn der Arzt ganz aufrichtig mit sich selbst sein wollte, um diesen Ruf wieder aufblühen zu lassen. Doch vermied Sligh den Gedanken an ein gewisses Absinken seiner Erfolge, da es mit »der Affäre« zusammenhing.

      Als die Operation gelungen war und der Patient, noch am Leben, in Gips lag, der zuständigen Schwester zur besonders sorgfältigen Beobachtung und Pflege empfohlen, versuchte diese, die Aufmerksamkeit des Chefs noch einmal für sich zu gewinnen. Sie bewerkstelligte ihr Vorhaben umständlich, ungeschickt, wie es ein Mensch in Verlegenheit wohl tut, und Roger Sligh, der, im Unterschied zu manchen seiner Kollegen, nicht nur Liebesaffären, sondern überhaupt jegliche Beziehungen persönlicher Natur aus der dienstlichen Sphäre zu verbannen gewohnt war, gedachte zunächst zu tun, als ob er nichts bemerke. Dann aber entschloss er sich zu einem streng aufmerksamen Blick.

      »Was gibt es?«

      »Es ist ein Zettel gefunden worden.«

      Diese inhaltlose Mitteilung konnte, so schien es dem Chefarzt, der Anfang eines zeitraubenden Geschwätzes werden, das er nicht liebte, und um dies zu vermeiden, fragte er sofort kurz und bündig:

      »Wo?«

      »In den letzten Ausscheidungen des Patienten.«

      »Stand etwas darauf?«

      »Ihr Name, Doktor.«

      »Was für ein Name?«

      »Roger Sligh, M. D., Indian Hospital.«

      »Das war noch zu lesen?«

      »Ja.«

      »Wo ist der Zettel?«

      »In Ihrem Ordinationszimmer.«

      Roger Sligh sagte nichts weiter, sondern begab sich dorthin. Der Assistenzarzt hatte den Zettel, soweit möglich, gereinigt und getrocknet. Es war ein kleiner Zettel aus sehr widerstandsfähigem Papier, mit Dokumententinte beschrieben. Er war fest gefaltet und verklebt gewesen. Zu lesen war nichts als der Name des Chefarztes, die Angabe des Hospitals und die Zahl 8 000,-. Sligh ließ sich wiederholen, wie das Papier gefunden worden war.

      »Ist das nicht total verrückt, Landis? Warum frisst der Kerl meinen Namen auf?«

      Assistenzarzt Landis zuckte die Achseln.

      Sligh nahm das Papier an sich. Außer ihm selbst konnte niemand Interesse daran haben. Ein dem Chefarzt völlig unbekannter Indianer hatte ein Papier mit Slighs Namen und einer unverständlichen Zahlenangabe verschluckt.

      Roger Sligh, M. D., studierte nochmals seine eigene Adresse. Er legte das Papier sorgfältig in seine Brieftasche und fragte, ob es noch dringende Fälle gebe.

      Es gab sie nicht.

      Sligh konnte ohne Gewissensbisse das Hospital für heute verlassen. Die Operation war langwierig und schwierig gewesen. Der geringste Missgriff hätte den Tod des Patienten herbeiführen können. Es musste jedermann einleuchten, dass sich der Chef heute früher als sonst müde fühlte.

      Zu Hause angekommen, erholte sich Sligh in seinem Klubsessel, demjenigen Klubsessel, von dem aus er, selbst ungesehen, durch das Fenster beobachten konnte, was für Wagen die Agenturstraße entlangfuhren. Es war dies keine interessante, aber eine ablenkende Beschäftigung. Nach zwei Stunden aß er zu Abend. Seine Haushälterin konnte sich nicht beklagen, dass der Doktor etwa schlechten Appetit habe. Er aß, was die Schüsseln ihm Schmackhaftes boten.

      Die Haushälterin ging.

      Das war der Moment, den Sligh gefürchtet hatte. Er blieb allein in der Gesellschaft seiner Gedanken. Verdammte Handschrift! Der Erpresser hatte Slighs neue Adresse gefunden. Sligh wusste nicht, wer das war. Ein Unbekannter, ein Nebel, ein Verfolger ohne Namen und ohne Gesicht. Oder kannte er dieses Gesicht jetzt? Hatte er dem verfluchten Burschen das Leben gerettet?

      Das ließ sich untersuchen. Er musste die Handschrift Joe Kings kennenlernen. Niemand vermochte seine Handschrift so zu verstellen, dass ein geübter Schriftsachverständiger