Sie fand vier Jeans, die ihr einigermaßen passten und die tolle Farben hatten. Sie suchte sich mehrere T-Shirts und drei Sweatshirts aus. In einen bordeauxroten Nicki verliebte sie sich sofort, und sie beschloss, einen blauschwarz gestreiften Pullover, den Nicki und eine grünschwarz gestreifte Jeans gleich anzuziehen.
»Du, Janne, habt ihr vielleicht zufällig auch eine Dusche?«
»Ja, zufällig ist eine Dusche im kleinen Bad neben der Küche. Brauchst du sonst noch irgendwas?«
Hannah schüttelte den Kopf, trug die neuen Anziehsachen wie einen Schatz ins Bad und duschte fast eine halbe Stunde lang heiß. Sie fand Shampoo und Duschgel und mehrere große, warme, bunte Frottehandtücher, und ihre Laune besserte sich mit jeder Minute, die sie in dem Laden verbrachte. Die neuen Sachen passten ihr eigentlich ganz gut.
Gut, dass Janne so klein ist, dachte sie und verteilte ihre nassen Sachen auf den verschiedenen Heizkörpern im Laden. Ihre kurzen Haare trockneten schnell. Hannah hatte plötzlich das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Sie setzte den Wasserkocher erneut auf, weil das Wasser für den Kaffee mittlerweile nur noch lauwarm war, sang, ohne es zu merken, eine Melodie vor sich hin und bot Janne schließlich einen frisch aufgebrühten Kaffee an.
»Die Sachen stehen dir echt gut«, sagte Janne bewundernd. »Ich mach übrigens in einer halben Stunde den Laden zu.« Prüfend sah sie Hannah an. »Wenn du willst, kannst du deine Sachen über Nacht hier lassen. Morgen sind sie bestimmt trocken, dann kannst du sie wieder abholen.«
Hannah erschrak. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Dass der Laden schließen könnte. Dass Janne bestimmt was Besseres zu tun hatte, als sich den Rest ihres Lebens mit ihr zu unterhalten.
Scheiße, was mach ich denn jetzt?, überlegte sie fieberhaft. Hannah war den Tränen nah, schluckte sie aber verbissen hinunter. Mir wird schon was einfallen, und fast trotzig sah sie Janne an.
Janne beobachtete Hannah und räusperte sich. »Du, darf ich dich mal was fragen?«
Hannah ließ sich nicht anmerken, ob sie damit einverstanden war. Sie fühlte sich in absoluter Hochspannung und unmittelbar bedroht. Als sie Janne nur schweigend anstarrte, fuhr Janne fort.
»Ich habe den Eindruck, als wäre es vielleicht eine gute Idee, im Mädchenhaus anzurufen. Wenn du das willst, dann kannst du das Telefon da vorne benutzen. Du kannst auch mein Handy haben und in der Küche telefonieren, wenn du lieber deine Ruhe haben willst.«
»Wieso soll ich da anrufen?«, fragte Hannah und fühlte sich elend. Ihre Panik stieg.
»Ich dachte, falls du nicht weißt wohin, wäre das vielleicht ein guter Ort.« Janne sah sie unsicher an. »Ich … es war nur so ein Gefühl. Als ob du im Moment keinen Ort hättest, wo du hinkannst.« Und weil Hannah immer noch nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Ich kann mich ja auch irren.«
Hannah hörte wieder diesen Knall. Und spürte den Sargdeckel, der sich über ihr schloss.
Jemand sprang auf. Jemand, der nicht mehr Hannah war. Jemand, der ziemlich wütend war. Nur wütend und sonst gar nichts. Ihre Augen funkelten.
»Ach, was wissen Sie denn schon«, schrie sie. »Was soll ich denen denn erzählen? Meinen Sie vielleicht, mir glaubt jemand auch nur ein einziges Wort? Mir hat noch nie irgendjemand irgendwas geglaubt. Und Sie, Sie wollen mich doch auch bloß so schnell wie möglich wieder loswerden. Ich … ich kann denen nix erzählen. Ich … ich weiß einfach nichts … Ich kann nicht so tolle Worte machen wie Sie. Ich …«
Dezember brach ab. Wieso stand sie in diesem komischen Zimmer einer wildfremden Frau gegenüber? Was war jetzt bloß wieder passiert? Und wieso fragte die sie aus? War das etwa wieder so eine vom Jugendamt? Sie zitterte. In ihrer Wut hatte sie einen Stuhl umgerissen, der direkt hinter ihr stand. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, sie schmeckten salzig. Mit den Augen suchte sie die Tür. Ihr fiel ein, dass sie bestimmt eine Jacke getragen hatte und dass die noch irgendwo sein musste. Scheiße. Und so was wie einen Rucksack oder eine Tasche hatten sie normalerweise auch immer bei sich. Aber das war eigentlich auch egal. Die Frau sah ziemlich erschrocken aus. Sie war ebenfalls aufgesprungen. Ihre Stimme klang laut.
»Du brauchst keine tollen Worte, verdammt. Du sagst denen einfach, dass du da hinwillst. Das ist alles, was du tun musst. Du musst nix beweisen. Dein Gefühl reicht. Wenn du nicht nach Hause willst, dann hast du das Recht, dorthin zu gehen.«
Die Frau setzte sich wieder. Dezember hob den Stuhl auf und stellte ihn an die gleiche Stelle zurück. Sie sah sich in dem Zimmer um, als suche sie nach einem Halt oder einem Wort.
»Da ist niemand«, hörte sie sich sagen und fühlte sich plötzlich sehr klein.
Die Frau sah Dezember einen Moment lang an. Dann sagte sie: »Im Mädchenhaus ist immer jemand, sie sind Tag und Nacht da.«
»Nein. Das stimmt nicht. Jemand von uns hat schon angerufen und es war niemand da.« Sie verstummte entsetzt. Oh nein, dass hätte sie niemals, niemals sagen dürfen. Das hätte ihr nicht herausrutschen dürfen. Sie hatte sich verraten.
Dezember wurde schlagartig schlecht und sie hielt sich krampfhaft an der Stuhllehne fest.
Gut, jetzt hatte sie es also gesagt. Jetzt würde die Frau sie bestimmt rausschmeißen, sie anschreien oder vielleicht sogar … Dezember duckte sich.
»Hey«, hörte die Stimme der Frau, »es tut mir Leid, dass du nicht sofort jemanden erreicht hast. Stimmt, manchmal unternehmen die Frauen etwas mit den Mädchen und sind dann nicht da. Oder sie sprechen gerade mit einem Mädchen und wollen nicht unterbrochen werden. Aber sie sind dann nie lange weg und man kann später noch einmal anrufen.«
»Aber ich soll eine Nummer sagen, wo die mich erreichen können. Ich habe aber keine.« Dezember schwieg.
»Wir könnten zusammen den Laden aufräumen und vorher rufst du im Mädchenhaus an und hinterlässt die Nummer hier. Und wir bleiben so lange hier, bis dich jemand zurückruft. Was hältst du von der Idee?«
Dezember war plötzlich unendlich müde. Sie konnte überhaupt nicht mehr denken. Immer noch drehte sich alles, und ihr wurde noch übler. Sie hörte tausend Stimmen in ihrem Kopf, die ihr unterschiedliche Sachen sagten. Welche, die unglaublich wütend waren. Andere, die einfach lachten, sie auslachten.
»Ich kann nicht mehr«, sagte Dezember und ließ sich auf den Boden fallen.
Liebes Tagebuch
Donnerstag, den 2. Juni 1994
Tante Lore hat mir heute zum Geburtstag ein Buch mit leeren Seiten geschenkt. Tante Lore ist – glaube ich – die einzige Tante, die ich richtig gerne mag aus meiner ganzen Verwandtschaft. Sie hat gesagt, ich könnte es als Tagebuch benutzen oder um Gedichte darin aufzuschreiben. Dass Tante Lore überhaupt weiß, dass ich Gedichte schreibe! Das Wichtigste ist wahrscheinlich, dass ich das Tagebuch sehr gut verstecke, damit Mama es nicht findet.
Denn sie würde bestimmt alles lesen. Meine Post macht sie ja schließlich auch einfach auf. Sie meint, Briefgeheimnis gilt nicht für Kinder, solange sie noch zu Hause wohnen. Und weil sie das Sorgerecht für mich hat – Mama sagt immer ›die elterliche Gewalt‹, so wie das wohl früher mal hieß, tja, solange sie also für mich noch zuständig ist, hätte sie das Recht, alles zu lesen und zu kontrollieren, was für mich ist oder von mir kommt.
Klar, bei ihrer Paranoia, dass ich sowieso bloß lüge. Woher sie das wohl weiß?
Ich jedenfalls finde es echt gefährlich, hier mal eben so locker ein Tagebuch zu führen. Denn was wirklich zu Hause passiert, sollte man hier wohl lieber nicht reinschreiben. Na, kann mir ja egal sein. Meine Meinung interessiert dich ja sowieso nicht.
Jetzt kaue ich schon die ganze Zeit auf meinem Stift herum – eine sehr schlechte Angewohnheit, sagt Papa. Ich glaube, da hat