Abb. 1: Die erste Gründerzeit in Deutschland (Quelle: Heilmann/Schön, 2020)
1.2 Von der industriellen in die digitale Revolution – mit 4 Säulen
Auch heute sind die Herausforderungen riesig – vom Klimawandel über eine alternde Gesellschaft bis hin zu Pandemien und zur Digitalisierung. Unsere Ausgangsposition ist heute eine ganz andere, eine komfortablere: jahrelange Vollbeschäftigung und ausgeglichene Haushalte, Exportüberschüsse und Rekordsteuereinnahmen. Das ist ein Verdienst von Unternehmergeist und guter Wirtschaftspolitik, darf uns aber nicht blind für den Druck um uns herum machen. Denn die Welt um uns herum dreht sich immer schneller. Die Geschwindigkeit, mit der wir uns auf neue Situationen einstellen müssen, nimmt zu. Klar ist: Wir werden uns in den nächsten 10 Jahren strukturell so stark verändern müssen wie in den letzten 70 Jahren.
Denn auch in dieser Revolution ist Deutschland spät dran – aber noch nicht zu spät. Auch jetzt können wir mit guten Aussichten zur Aufholjagd ansetzen, wenn wir eine neue Gründerdynamik entfalten. Natürlich geht es dabei nicht darum, die Rezepte von vor 150 Jahren zu kopieren. Aber die fundamentalen Erfolgsfaktoren haben sich seither erstaunlich wenig verändert. Ein vitales Start-up-Ökosystem im 21. Jahrhundert wird von denselben drei Säulen getragen wie die Gründerzeit des 19. Jahrhunderts: Staat, Kapital und Wissen. Ein moderner, funktionierender Staat mit kluger Regulierung, guten Bedingungen für Forschung und Wissenstransfer sowie aktivem und einsetzbarem Risikokapital ist auch heute in der Lage, eine enorme wirtschaftliche Dynamik zu entfesseln. Dazu kommt eine vierte Säule, die vor 150 Jahren nur begrenzt berücksichtigt wurde: die Mitarbeiter. Je einfacher und besser sie am Erfolg eines Unternehmens beteiligt werden können, desto größer ist die Motivation für den Einzelnen und damit die Erfolgschancen für das Unternehmen.
Zur ersten, wohl wichtigsten Säule: Wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftlicher Wohlstand hatten schon immer ihr Fundament in funktionierenden staatlichen Strukturen und Systemen. Fehlt es daran, helfen keine Förderprogramme und keine Industriepolitik, keine Planwirtschaft, keine Ausgabenpläne und keine Konjunkturhilfen. Um den Staat nicht nur irgendwie am Laufen zu halten, sondern ihn zukunftsfähig zu machen, benötigen wir eine grundlegende Reform der staatlichen Verwaltung. Wie eine solche grundlegende Reform aussehen kann, sprengt den Rahmen dieses Kapitels.1 An dieser Stelle möchte ich Vorschläge vorstellen, wie wir gezielt die Start-Up-Szene in Deutschland fördern und eine neue Gründerzeit starten können.
1.3 Kapital für das Start-up-Ökosytem
Etwas ausführlicher will ich auf die zweite Säule eingehen: Das Kapital. Der erste Ansatzpunkt muss dabei am Anfang liegen: bei der Anschubfinanzierung von Unternehmen. Start-ups sind wie Raupen. Sie haben nimmersatten Hunger, wachsen schnell, und die wenigsten überleben lang genug, um sich als schillernde Schmetterlinge zu entpuppen. Die digitale Gründerzeit entwickelt dabei sogar einen noch stärkeren Appetit als die industrielle – und verlangt noch lauter nach frischem Kapital. Der Wettbewerb ist global, und die Regeln der Plattformökonomie begünstigen nur die Besten, Schnellsten, Größten: Es gilt das Prinzip »the winner takes it all«. Wer mithalten will, muss auf schnelles und kapitalintensives Wachstum setzen. Und die passende Kapitalform für diesen ebenso großen wie frühen Kapitalbedarf ist Wagniskapital.
Bisher sieht es in puncto Wagniskapital in Deutschland und Europa bescheiden aus: Im Jahr 2018 wurden in ganz Deutschland gerade einmal 4,6 Milliarden Euro Wagniskapital investiert – weniger als ein Zehntel dessen, was US-amerikanischen Start-ups zugutekommt. 2019 lagen England und Frankreich bei VC-Investitionen in junge Unternehmen vor Deutschland. Und: Auch ganz Europa gerät ins Hintertreffen, nicht nur gegenüber den USA. Während sich die Investitionen in Europa zwischen 2012 und 2017 immerhin fast verdreifachten, sprangen sie in Asien auf fast den 15-fachen Betrag – und damit auf das Niveau der USA.
Besonders groß ist der Finanzierungsnachteil der jungen Unternehmen in Europa während der späteren, besonders kapitalintensiven Wachstumsphase. In Europa wird pro Finanzierungsrunde deutlich weniger Geld eingesammelt als in Asien und den USA. Facebook, Tesla und Uber haben während ihrer Entwicklung durchschnittlich gut 5 Milliarden Dollar eingesammelt – was sie konnten, weil Wagniskapitalgeber in den USA grundsätzlich mehr als 50 Prozent ihrer Mittel in dieser Phase investieren. In Europa sind es dagegen nur 38 Prozent. Darüber hinaus sind die Unterschiede nicht nur beim gesamten Investitionsvolumen, sondern auch bei den durchschnittlichen Investitionen pro Unternehmen gravierend.
Der Mangel an Wagniskapital in Deutschland hat verheerende Folgen: Jedes vierte Start-up will ins Ausland gehen, weil zu Hause das Geld fehlt und weil Mitarbeiterbeteiligungen
Abb. 2: Investitionslücken im Wachstumsprozess von Start-ups (Quelle: Heilmann/ Schön, 2020)
zu kompliziert und zu teuer sind. Das Geschäft wird häufig im Ausland gemacht. Das Datenkompressionsverfahren MP3 etwa wurde in Erlangen entwickelt und von der Fraunhofer-Gesellschaft patentiert. Doch deutsche Firmen wie Siemens zögerten, auf diese neue Technologie zu setzen – mit dem Ergebnis, dass der erste MP3-Player in Korea produziert wurde. Deutschland meldet in Europa die meisten Patente an, doch weil das Wagniskapital fehlt, heißt es oft: Invented in Germany, sold somewhere else.
Dass US-Unternehmen schneller und früher mit mehr Wagniskapital rechnen können und auch größere Finanzierungsrunden möglich sind, liegt vor allem an zusätzlichen Akteuren auf dem Markt: den mächtigen Pensionskassen und Versicherungen. Wollen wir eine neue Gründerzeit in Deutschland auslösen, brauchen wir vor allem attraktivere Bedingungen für solche institutionellen Investoren. Einen großen Schritt in diese Richtung hat die Bundesregierung gerade mit einem Zukunftsfonds für Wachstumskapital getan. Ein Dachfonds soll es institutionellen Anlegern vereinfachen, in Venture-Capital-Fonds zu investieren. Außerdem sollen bisherige Instrumente mit Wachstumsfaszilitäten ergänzt werden und somit die Finanzierungslücke gerade bei größeren Runden schließen. Der Fonds soll im kommenden Jahr starten und in den nächsten Jahren auf ein Volumen von zehn Milliarden Euro staatliches Kapital anwachsen. Gehebelt um das private Kapital kann man von mindestens dem doppelten, vielleicht dreifachen Volumen ausgehen – ein echter Quantensprung. Gemeinsam mit den bereits bestehenden – in den letzten Jahren geschaffenen oder ebenfalls stark angewachsenen – Instrumenten für Wachstumsfinanzierung wie HTGF, Coparion, KfW Capital und EIF wird die Bundesrepublik damit erstmals in ihrer Geschichte über eine veritable Finanzierungslandschaft für Wagnis- und Wachstumskapital verfügen.
1.4 Konkrete Vorschläge für mehr Gründungsdynamik
Zur Schaffung institutioneller Player für Wagniskapital passt eine Reform des deutschen Rentensystems: Durch den Aufbau eines Kapitalstocks, den wir nach Vorbild skandinavischer Staatsfonds breit anlegen, wollen wir die Beitragslast der Arbeitnehmer reduzieren und Rentenniveaus absichern. Von der im Staatsfond geschaffenen Liquidität sollen in Teilen auch Start-ups durch verbesserten Zugang zu institutionellem Wagniskapital profitieren.
Aber auch darüber hinaus kann Deutschland mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen zusätzliche Anreize schaffen, damit institutionelle Anleger mehr Wagniskapital zur Verfügung stellen: Es gibt keinen Grund, warum institutionelle Anleger in Deutschland steuerlich schlechter gestellt sein sollten als sonst in der EU. Deshalb sollte die Besteuerung von Management-Fees europaweit gleich behandelt werden. Weitere Möglichkeiten für steuerliche Anreize gibt es bei der Beteiligung an innovativen kleinen bis mittleren Unternehmen – hier könnte die Investition