Die zusammengewürfelten Häuser des Dorfes hielten keinem Vergleich mit den Bauten der reichen Händler und Stadtoberen im Süden stand. Vielmehr drängten sie sich eng und gebeugt aneinander wie ein Haufen klagender Weiber. Jedes Dach, jede Wand, ja selbst die Menschen schienen vom grauen Schmutz des Ödlands wie von Raureif überzogen. Kaum eines der Häuser hatte mehr als ein Stockwerk, alles war aus Holz gezimmert und hier und da mit Lehm verputzt. Die meisten Fenster hatte man mit Häuten bespannt, die übrigen durch hölzerne Läden verschlossen; auch das Glas war den Reichen vorbehalten. Die Gassen waren so schmal, dass kaum drei Menschen nebeneinander gehen konnten, ohne mit den Schultern zusammenzustoßen. Die fetten schwarzen Ratten beherrschten die Schatten und wieselten dreist zwischen den Hufen des Pferdes einher.
Männer und Frauen, die ich traf, beäugten mich voller Misstrauen. Trotz der Nässe und des Schlamms, der über mich und das Pferd gespritzt war, sah man mir an, dass ich nicht in diesen Pfuhl aus Armut und Elend gehörte. Dabei war dies doch meine Heimat, wenngleich ich die Wege breiter, die Häuser viel höher und die Menschen freundlicher in Erinnerung hatte. Alles schien mir merkwürdig fremd, als kehrte ich nicht zurück an den Ort meiner Kindheit, sondern ritte vielmehr durch eine ferne, feindselige Gegend, für die ich nichts als Verachtung spürte.
Ich war nicht sicher, was ich eigentlich in diesem Teil Hamelns suchte. Ebenso gut hätte ich mit meinen Nachforschungen über das Schicksal der Kinder im reichen Süden beginnen mögen, und doch trieb mich ein unbestimmtes Gefühl hierher. Hier drängten sich die meisten Bewohner der Stadt auf engem Raum; zweifellos war ein Großteil der verschwundenen Kinder unter diesen armseligen Dächern geboren. Nirgends war einer zu sehen, der weniger als fünfzehn, sechzehn Lenze zählte, was mich in meinem Entschluss bestätigte – wenngleich die stumme Ablehnung in den verhärmten Gesichtern wenig Bereitschaft zeigte, mit mir über das Geschehene zu sprechen.
Ich stieg vom Pferd und führte das Tier an den Zügeln. Sogleich sanken meine Füße in den schlammigen Boden, doch schien mir mein Sitz auf dem Rücken des Rappen zu stolz und überheblich inmitten solch karger Bedürftigkeit. Eine Weile lang erwog ich, das Haus meiner Kindheit zu suchen, doch dann entschied ich mich fürs Erste dagegen. Meine Familie war nicht mehr, nichts zog mich zurück zu meinen Wurzeln.
Vor einem der wenigen Häuser, welche die übrigen durch ein zweites Stockwerk überragten, machte ich halt. Ein hölzernes Schild wies es als Herberge aus, und obgleich es im Süden zweifellos ein einladenderes Gasthaus geben mochte, beschloss ich, hier um Aufnahme für die Nacht zu bitten.
Ein buckliger Knecht führte mein Pferd in einen Stall an der Rückseite. Die Fensterläden waren bis auf schmale Spalten geschlossen, auch dieses Haus starrte von außen vor Schmutz. Wie erstaunt war ich allerdings, als ich den Schankraum in unverhofft reinlichem Zustand vorfand. Bis auf den Boden, der durch zahllose Fußtritte schlammverkrustet war, glänzte alles vor polierter Sauberkeit. An langen Tischen standen Bänke, die um diese Tageszeit allesamt leer waren. Eine hölzerne Treppe führte hinauf ins Obergeschoss.
Aus einer Tür, hinter der wohl die Küche lag, trat ein junges Mädchen, siebzehn vielleicht, kaum älter. Es trug ein Kleid aus grob gewebtem Stoff und eine fleckige Schürze. Sein schmales Gesicht war hübsch anzuschauen und von belebender Frische. Langes, strohfarbenes Haar wuchs als wilde Mähne bis hinab auf seinen Rücken. Seine Wangen erröteten schlagartig, als es meiner ansichtig wurde, es fuhr auf der Stelle herum und lief dorthin zurück, von wo es gekommen war.
»Großmutter«, hörte ich seine Rufe im Hinterzimmer.
»Großmutter, komm schnell! Ein Gast ist da.«
Wenig später stürmte ein Schlachtross von Weib in die Stube, grauhaarig und gewaltig, mit Bauch und Busen wie Berge. Sobald sie mich sah, verwandelte sie sich in ein wild grimassierendes und mit den Armen ruderndes Bündel aus Demut und Beflissenheit.
»Hoher Herr, welche Ehre, welche Ehre«, rief sie, riss mir mein bleischweres Bündel aus der Hand und stemmte es mit mannhafter Kraft auf den nächstbesten Tisch. Ich wehrte ab, als sie auch nach meinem Schwert greifen wollte, das ich in seiner Scheide in der Linken trug.
»Verzeiht«, sagte sie sogleich unter merkwürdigen Zuckungen, die zweifelsohne Verbeugungen sein sollten, nur dass ihr dabei die Titanenbrust und die Wülste ihres Leibes arg im Wege waren. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«, fragte sie.
»Mit einem Zimmer für die Nacht und einer deftigen Mahlzeit.« Ich wusste nicht, ob mich ihre hündische Ergebenheit abstoßen oder erfreuen sollte. Dann aber beschloss ich, ihr Benehmen als raue Liebenswürdigkeit zu deuten; der erste Mensch in dieser elenden Stadt, der mir mehr als Ablehnung oder gar Feindschaft entgegenbrachte. Mochte es ihr dabei ruhig allein um die Barschaft in meinem Beutel gehen.
»Sofort, mein Herr, sofort«, sagte sie, drehte sich um und brüllte: »Maria! Wo bist du, Nichtsnutz? Komm her und trag die Sachen des edlen Herrn nach oben.«
Das Mädchen eilte herbei, schlug die Augen nieder und mühte sich mit beiden Händen, das Bündel vom Tisch zu heben. Sie war zierlich, ganz anders als ihre fette Großmutter, und offenbar weit weniger kräftig.
Ich trat neben sie, ergriff das Bündel und drückte ihr nach kurzem Zögern das Schwert in die Hand. »Hier, trag das.«
Die Waffe war halb so groß wie sie selbst und gleichfalls von einigem Gewicht, doch sie nahm sie mit großen Augen entgegen und sah mich erstmals offen an.
»Ihr seid ein Ritter, mein Herr?«
»Maria!«, fuhr ihr die Alte barsch über den Mund.
»Was geht dich das an?«
Ich schüttelte beschwichtigend den Kopf. »Mein Name ist Robert von Thalstein, Ritter des Herzogs. Seid versichert, ihr werdet gut entlohnt, wenn ich alles zu meiner Zufriedenheit finde.«
»Oh, das werdet Ihr, edler Ritter, ganz zweifellos«, beeilte sich die Alte zu sagen. Augenscheinlich tat es ihr schon wieder Leid, Maria zum Tragen meiner Sachen gerufen zu haben, denn so mochte ihr selbst eine Münze entgehen, die ich dafür geben mochte. Wiewohl lag dergleichen nicht in meiner Absicht.
Maria ging voran und stieg vor mir die knarrende Treppe hinauf. Das Schwert hielt sie so ehrfürchtig, als sei es ihr eigener kostbarster Schatz. Oben traten wir in einen engen, beinahe stockdunklen Flur, an den eine Hand voll Zimmer grenzte. Maria lief an der ersten Tür vorbei – offenbar war der Raum schon belegt – und öffnete die zweite.
»Hier, mein edler Ritter«, sagte sie und trat zur Seite, um mich einzulassen. Das Zimmer war so karg, wie es die Umgebung erwarten ließ, allerdings schien es mir achtsam gepflegt. Es gab eine einfache Liege mit strohgefülltem Belag, einen dreibeinigen Schemel und, auf einem schmalen Tisch, eine tönerne Schüssel. Über dem Bett hing ein schlichtes Kruzifix. Die Fensterläden waren geschlossen, um den Regen auszusperren.
Ich dankte Maria, nahm ihr das Schwert ab und blickte ihr nach, als sie ging. Bis zuletzt hielt sie den Blick gesenkt, dann schenkte sie mir doch noch ein flüchtiges Lächeln, bevor sie von außen die Tür zuzog. Ich legte den Riegel vor, wusch mich und wechselte Beinkleid und Wams. Damit war mein Vorrat an frischer Kleidung aufgebraucht; ich würde Maria auftragen, die schmutzige zu säubern.
Schließlich zog ich ein Geschenk aus dem Bündel, das man mir vor meiner Abreise mit auf den Weg gegeben hatte: eine fingerlange, getrocknete Hasenpfote, befestigt an einem Lederriemen. Ein Talisman, der vor Gefahr bewahrte. Ich sah mich kurz um und befestigte ihn schließlich an einem losen Span im Gebälk über dem Bett. Dort hing er eine Weile, ehe ich mich besann, ihn wieder herunternahm und unter dem Flachsärmel meines Hemdes um den linken Oberarm band. Nah am Körper mochte er von größerem Nutzen sein.
Sodann legte ich mich für eine Weile aufs Bett. Der Graf huschte mir wieder ins Gedächtnis, und mir schauderte bei der Vorstellung, dass ein Mann wie er, ein Besessener von teuflischen Ideen, die Macht und Güte meines ehrwürdigen Herzogs vertreten sollte. Wen mochte es da wundern, dass die Bürger der Stadt sich von ihm abwandten und auf die Seite des feisten Bischofs Volkwin überliefen. Und schlimmer noch: Wie konnte ich Freundschaft und Hilfe bei meinem Bemühen