Ich erwog, den Rappen zu schnellerem Schritt voranzutreiben, doch dann beließ ich es bei sanftem Trab. Es schien mir nicht ratsam, gleich bei meiner Ankunft in die Obliegenheiten der hiesigen Bürger einzugreifen; zudem erkannte ich unter den Männern am Fuß der Esche einige in Lederpanzern mit dem Wappen des Bischofs von Minden.
Als mich nur noch eine kurze Entfernung von dem Auflauf trennte, sah ich, dass der Mann im Baum keineswegs aus freien Stücken dort kauerte. Tatsächlich war er mit groben Stricken ins Geäst gefesselt, an Füßen wie an Händen, in höchst misslicher Stellung. Mich wunderte daher umso mehr das wilde Brüllen und Drohen der Menschen, er möge umgehend herunterkommen. Sahen sie denn nicht, dass er nicht freiwillig dort oben festsaß?
Der Mann im Baum war ein grober, schmutziger Kerl mit wirrem Haar und vollem, dunklem Bart. Seine Kleidung war befleckt, der Stoff an manchen Stellen aufgerissen, das vermochte ich selbst durch Regen und Zweige zu erkennen. Barfuß war er wie ein Bettler. Sein Blick zuckte irre von einem zum anderen, und während seine Lage immer leidiger zu werden drohte, begegnete er der Wut der Bürger allein mit leerem Grinsen. War er vom Teufel besessen? Wollte man deshalb seinen Tod?
Einer der Schergen des Bischofs legte jetzt seinen Knüppel ab und schob sich einen Dolch zwischen die Zähne. Unter dem Jubel der Umstehenden machte er sich daran, die Esche zu besteigen. Der schmutzige Kerl in der Baumkrone spuckte vor ihm aus und lachte.
»Das wird dir noch vergehen«, brüllte ein anderer der Kirchendiener voller Abscheu hinauf. »Dein Scheiterhaufen steht bereit.«
Der Zerlumpte antwortete mit neuerlichem Spucken, diesmal in die Richtung des Sprechers.
»Sagt, was geht hier vor?«, fragte ich den Bischöflichen, der zuletzt gerufen hatte.
Er wandte sich erstaunt zu mir um, auch einige andere Köpfe drehten sich. Der Mann musterte mich einen Augenblick, dann bemerkte er das Wappen des Herzogs an meinem Sattel. Trotzdem fragte er dreist: »Wer will das wissen?«
Ich schenkte ihm einen eisigen Blick. »Mein Name ist Robert von Thalstein, Ritter im Auftrag des Herzogs Heinrich von Braunschweig. Und nun«, sagte ich, wobei ich meiner Stimme einen schärferen Ton verlieh, »gib mir gefälligst Antwort, Knecht.«
Das letzte Wort ließ ihn zusammenfahren, und seine Augen verengten sich vor Wut. Wiewohl, zu seinem eigenen Besten blieb er ruhig und entgegnete gehorsam: »Der Mann dort oben ist ein Ketzer, ein Jünger des heidnischen Wodan. Der Vogt gab Befehl, ihn zum Marktplatz zu bringen. Dort soll er brennen, wie es ihm und den Seinen gebührt.«
Ich sah erneut hinauf in den Baum, wo der Scherge den Mann fast erreicht hatte.
»Wer hat ihn dort oben gefesselt?«, fragte ich.
»Er selbst war es, der die Schlingen anlegte«, erwiderte der Bischöfliche, ohne mich dabei anzusehen, denn das Geschehen im Baum schien ihm wichtiger als meine Anwesenheit.
Ich schluckte die Zurechtweisung, die mir auf der Zunge lag, und fragte stattdessen: »Weshalb sollte er das getan haben?«
»Bin ich ein Ketzer? Wie soll ich das wissen?«
»Wenn Ihr es nicht wisst, wie könnt Ihr dann so sicher sein?«
Ungeduldig fuhr der Mann erneut herum. »Was mischt Ihr Euch in diese Angelegenheit, Ritter? Dies ist eine Sache des Vogts und unseres Herrn, des Bischofs. Reitet weiter oder tut, was Euch beliebt, aber lasst uns unsere Arbeit verrichten.«
Fast hätte ich ihn mein Schwert spüren lassen – nichts lieber als das! –, doch gelang es mir im letzten Moment, mich zu zügeln. Erstmals besah ich mir den bischöflichen Schergen genauer. Ein raues Gesicht, umrahmt von einem blonden Bart. Eine Narbe quer über der Stirn.
»Nennt mir Euren Namen«, verlangte ich gefasst.
»Einhard«, erwiderte der Mann beinahe gleichgültig. »Und falls Ihr gedenkt, Euch beim Vogt oder Dechant über mich zu beschweren, so tut das, wenn Ihr wünscht. Aber bedenkt: Euer Wort wiegt in dieser Stadt nicht mehr als das meine.«
Das also war es, wovor man mich gewarnt hatte. Hameln unterstand dem Bischof von Minden ebenso wie meinem Herrn, dem Herzog von Braunschweig. Ein erbärmlicher Vertrag, entstanden aufgrund von missratenem, politischem Kalkül, hatte vor fast zwei Jahrzehnten für diese missliche Lage gesorgt, und da Braunschweig fern, die Macht des Bischofs aber allgegenwärtig war, schien mein Stand in dieser Sache nicht der beste.
»Wir werden sehen«, war daher das Einzige, was mir als Erwiderung einfiel, und es klang selbst in meinen eigenen Ohren wie das Eingeständnis einer Niederlage. Trotzdem gedachte ich keinesfalls, die Sache damit auf sich beruhen zu lassen.
Ein lautes Schreien und tosender Beifall der Menge befreite mich vorerst von meinen Sorgen. Ich sah eben noch, wie der Scherge des Bischofs den letzten Strick am Handgelenk des strampelnden Ketzers durchschnitt, dann stürzte der Unglückliche wie ein gefallener Engel in die Tiefe. Mit einem weiteren Aufschrei schlug er auf, Schlamm bespritzte die Umstehenden. Alles Weitere ging unter im Gröhlen der Menge, die sich sogleich auf den Mann stürzte und ihn gewaltsam auf die Füße riss. Im Hintergrund sprang der Kirchenknecht sicher zu Boden.
Der schmutzige Kerl lachte nicht mehr, doch er protestierte auch nicht, als zwei Bischöfliche ihn grob an den Armen fassten. Einhard, offenbar der Ranghöchste unter den Männern, beachtete mich nicht weiter, ging auf den Gefangenen zu und versetzte ihm einen grausamen Hieb in den Magen. Ein zweiter Schlag traf die Nase des Ketzers. Krachend barst der Knochen. Blut schoss über das verschmutzte Gesicht. Wieder johlten die Zuschauer, einige verlangten nach mehr.
Einhard gab seinen Männern einen Wink, auf dass sie den Verletzten in Richtung des Stadttors abführten. Der Ketzer ließ es ohne Gegenwehr geschehen, ja, er ging erhobenen Hauptes voran, als führe er die Gruppe der Soldaten und Bürger an wie ein Priester seine Lämmer. An das Blut, das ihm vom Kinn auf die Kleidung tropfte, wie auch an den Schmerz schien er keinen Gedanken zu verschwenden. Ich kam nicht umhin, ihm Achtung zu zollen, obgleich ich ihn für seinen Götzendienst verdammte. Ich zweifelte nicht, dass er den Feuertod verdiente.
Ich verharrte einen Augenblick, beobachtete mit Gleichmut, wie einer der Schergen zurückblieb und das Gras am Fuß des Baumes nach irgendetwas absuchte, dann trieb ich mein Pferd voran und folgte der aufgebrachten Gruppe in einigem Abstand durch den peitschenden Regen zur Stadt.
Die Wehrmauer, die Hameln umgab, war nicht allzu mächtig, vielleicht drei Mannslängen hoch; einem Sturm entschlossener Gegner würde sie kaum etwas entgegenzusetzen haben. Die Planer der Stadt hatten wenig für ihre Verteidigung aufgewandt, und als ich durch das Osttor ritt, begriff ich sogleich den Grund.
Nachdem sich eine weitaus größere Menge Schaulustiger, die den Soldaten und ihrem Gefangenen am Tor entgegengefiebert hatten, der kleineren Gruppe angeschlossen hatte und unter allerlei Geschrei und Gefluche mit ihr weiter gen Markt gezogen war, bot sich mir ein merkwürdiger Anblick. Erst glaubte ich, die Stadt liege in Ruinen, dann erst wurde mir klar, dass Hameln alles andere als eine vollendete Siedlung war. Im Süden gab es einen sichelförmigen, innen an die Stadtmauer geschmiegten Bereich bewohnter Häuser, und auch weiter oben im Norden entdeckte ich alte, gebückte Gebäude; das mussten die Dächer und Giebel gewesen sein, die ich aus der Ferne gesehen hatte – Häuser, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnerte. Zwischen den beiden Ansiedlungen im Norden und im Süden aber befand sich wüstes, totes Bauland. Vor mir erstreckte sich ein gewaltiges Labyrinth aus Gruben, halbfertigen Mauern, Holzgerüsten und einigen ungedeckten Dachstühlen. Regentropfen wühlten den dünnflüssigen, schwarzen Schlamm auf, der den wenigen Tagelöhnern, die ich sah, bis zu den Waden reichte. In der Mitte dieser unwirtlichen Ödnis ragte ein bereits vollendeter Kirchturm in den grauen Himmel (im südlichen Bezirk gab es einen zweiten, kleineren), daneben stand ein gleichfalls fertig gestelltes Gebäude von beachtlicher Größe, zweifellos das Rathaus. Die Menschenmenge zog entlang einer Straße zum Kirchturm, an dessen Fuß sich der Marktplatz befand.
Hameln war meine Heimat gewesen, doch während der langen Jahre meiner Abwesenheit hatte sich vieles, ja beinahe alles verändert. Das mir vertraute Hameln war ein armseliges Dorf am Flussufer