»Erzähle!«, rief ein Kind, doch ein anderes blieb misstrauisch und fragte: »Welchen Wunsch?«
Die Fremde schüttelte den Kopf. »Wollt ihr hören, was ich zu sagen habe, oder nicht?«
Die meisten der Kleinen bejahten.
»Nun«, sagte die Fremde und überwand den letzten Abstand zu den Kindern mit wenigen Schritten. Da bemerkten sie, dass die Frau hinkte; sie zog das linke Bein nach wie ein Ochse den Pflug. »Ich war einst das lahme Mädchen, das den anderen Kindern Bethlehems nicht folgen konnte.«
Ein paar der kleinen Zuhörer kicherten ungläubig, anderen aber stockte der Atem. »Unmöglich«, sagte ein Mädchen mit großem Ernst, »dann müsstest du Hunderte von Jahren alt sein. Und nur der Heiland ist unsterblich.«
Die Mundwinkel der Frau zuckten in den Schatten, doch sie gab keine Antwort.
Ein anderes Kind sagte zum ersten: »Jesus starb am Kreuz, er war nicht unsterblich.«
Ein Junge musterte die Fremde mit verkniffenem Blick.
»Wenn Christus nicht unsterblich war, dann kann er nicht der Heiland gewesen sein, oder?«
»Aber er erhob sich von den Toten«, warf ein anderer ein.
»Tot ist tot. Niemand kann von den Toten auferstehen.«
»Aber wenn er doch der Heiland –«
»Hast du denn nicht zugehört?«, fuhr einer der Ältesten dazwischen. »Er starb, also war er keiner.«
Die Frau hatte all dem schweigend und mit schmunzelnder Belustigung zugehört. Jetzt aber, während die Kinder weiter darüber stritten, wer von ihnen im Recht sei und die Lügen des Evangeliums durchschaut habe, wandte sie sich wortlos um und humpelte stadtauswärts davon, hinaus ins schwarze Hügelland.
Sie hatte bereits ein erhebliches Stück mit beschwerlichen Schritten zurückgelegt, da verstummte der Streit in ihrem Rücken, und ein Mädchen rief ihr hinterher:
»Dein Wunsch! Du hast deinen Wunsch vergessen!«
Die unheimliche Fremde drehte sich nicht um, ging einfach weiter und verschwand in der Nacht. Und doch war keines unter den Kindern, das ihre letzten Worte nicht vernahm, als wispere sie leise in jedes Ohr:
»Wenn ihr ihn trefft, dann tauft Herodes.«
1. KAPITEL
Manche sagen, Eltern träumen die Sünden ihrer Kinder. Doch wessen Sünden träume dann ich?
Damals, in der letzten Nacht vor meiner Ankunft in Hameln, erwachte ich nass von Schweiß, frierend in einem harten, fremden Bett voll von knisterndem, wimmelndem Leben. Ich träumte oft in jenen Jahren, doch nicht so häufig wie heute, und mochten damals die nächtlichen Bilder Vorboten der kommenden Ereignisse sein, hämische Krähen des Schlafs, so sind es heute die Erinnerungen, die mich martern, mich zurückzerren in die Vergangenheit, zurück an jenen Ort, in den Schlamm und in die Nässe. Zurück zu den Kindern.
Der letzte Tag meiner Reise begann früh, denn ich fand keinen Schlaf mehr, nachdem mich die Albdrücke zurück ins Wachsein entließen. Ich schnürte mein Bündel, stieg hinab in den finsteren Schankraum des Gasthofs und legte dem Wirt einige Münzen vor die Küchentür. Draußen traf ich den Stallknecht, der gleichfalls früh auf den Beinen war. Auch ihn entlohnte ich reichlich, sodass er eilte, mir mein Pferd zu satteln. Die Nacht lag noch schwarz und schwer auf dem Land, als ich das Gasthaus hinter mir ließ und entlang eines schmalen Hohlwegs gen Hameln ritt. Die Luft war kühl und atemlos, die Erinnerung an den steten Regen der vergangenen Tage wogte als herber Duft zwischen den Fichten. Kein Stern stand am Himmel, noch immer mussten die schweren, satten Wolken über den Septemberwäldern schweben, und der Weg vor mir schien wie ein seltsamer Gang durch leblose Finsternis. Kein Luftzug wehte, kein Zweig rieb sich am Holz anderer Äste, allein ein dürres Rinnsal rauschte in der Tiefe eines Talgrundes. Ihm folgte ich eine Weile, geführt allein vom Instinkt des Pferdes, denn meine müden Augen waren nutzlos im dräuenden Nachtdunkel. Es war, als schwebte ich auf dem Rücken des Tieres durch ein geheimnisvolles Nichts, und doch machte mir die scheinbare Leere, die Lautlosigkeit der Hügel und Täler keine Angst. Ich war froh, mich im Sattel einem dumpfen Halbschlaf hingeben zu können, ungestört von allem, was außerhalb meiner Gedanken geschah.
So ritt ich träumend dahin, wohl einige Stunden lang, mal in, mal außerhalb der Wälder, bis der Morgen graute – und das tat er ganz wortwörtlich, denn nichts als ein fahles Grau war es, das sich träge um die Herbstgerippe der Eichen auf öden Hügelkuppen legte. Tatsächlich sollte das knochenfarbene Zwielicht auch den Tag über nicht weichen, und ganz wie ich es vorhergesehen hatte, stellte sich bald von neuem der Regen ein und ließ die Hufe meines Rappen tief in schwarzem Schlamm versinken. Ich traf nicht eine Menschenseele während der letzten Stunden meines Ritts, nicht, bis meine trüben Augen gegen Mittag auf die Weserauen blickten und die Stadt aus dem Dämmerlicht kroch wie ein todgeweihtes Tier.
Aus der Ferne schien mir Hameln stumm und schweigend, ein merkwürdiger, kauernder Ort unter einem Himmel wie aus Blei gegossen. Hinter den Dächern zog sich das farblose Band des Flusses von Norden nach Süden, und mir, der ich von Osten kam, schien es zur Rechten wie zur Linken in weiter Biegung hinter den Hügelflanken zu verschwinden. Regen trieb in wogenden Schüben über das Land, ließ mal mehr, mal weniger von der Stadt erkennen. Kurz waren die Giebel in all ihrer kantigen Klarheit zu sehen, dann wieder verschwanden sie hinter Wolken aus eisiger Nässe.
Mein Weg führte entlang einer alten Handelsstraße zwischen zwei aufstrebenden Hängen einher, jener links nicht allzu hoch und nur mit starrem Gras bewachsen, der rechte von schwarzem, dichtem Wald bedeckt. Schnurgerade verlief die Straße zur Stadt hinunter, und als ich meinen Blick noch einmal auf den Berg zur Rechten wandte, erkannte ich in einiger Entfernung an seiner Flanke einen Richtplatz, ein kahler Erdhügel, auf dessen Kuppe sich ein Holzgerüst erhob wie ein hoher Tisch. Keine Menschenseele war zu sehen.
Weiter ritt ich, die Stadt kam näher, und schon verloren ihre Häuser und Stadtmauern die Winzigkeit des ersten Anblicks. Weite Wiesen legten sich im wilden Treiben des Regens hier in diese, dort in jene Richtung; sie waren alles, was die Ortschaft umgab bis hin zum Fuß der Hügelflanken. Hinter der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses, erkannte ich hohe Felsen, gekrönt von mehr und noch mehr Wald, drohend und düster über den Dächern.
Während ich dem Ort nun näher kam, hob sich aus dem Dunkel der Stadtmauer etwas hervor, das ich mit blinzelnden Augen als hohe, mächtige Esche erkannte, der einzige Baum entlang der Flussaue, dafür umso kräftiger gewachsen und weit gefächert. An seinem Fuß hatte sich eine kleine Menschengruppe versammelt, zehn oder fünfzehn Gestalten. Etwas schien sie in große Aufregung zu versetzen, denn sie alle hatten die Blicke hinaufgewandt zu den knorrigen Ästen. Ab und an drang ein zorniger Ruf durch die wirbelnden Regenschwaden bis an mein Ohr.
Da plötzlich wandelte sich das Dämmerlicht, der tintige Regenhimmel wurde hoch über der Stadt zerrissen, und ein feuerroter Schein brach durch die Wolkentürme. Wie ein gleißendes Auge hing die Öffnung inmitten des Unwetters. Feueröfen schienen sich aufzutun, Wiesen und Hügelflanken wurden für einen kurzen Moment in entsetzliche Glut getaucht, der Wind brüllte wie ein zorniges Biest hinab aus den Wäldern, und ganz kurz schien es, als rase ein Dämonenheer mit glühender Wucht über die Mauern und Dächer. Flammenteufel schienen auf den Giebeln zu tanzen, als die Sonnenstrahlen ein letztes Mal über die Häuser sengten. Dann schloss sich das lodernde Maul am Himmel, und Zwielicht löschte die fauchenden Lohen. Alles war wieder wie zuvor, von Brand und Feuer keine Spur, nur Regen und Wind und wässriges Grau.
Mir war, als erwachte ich aus einem neuerlichen Traum; ganz unwohl und zittrig waren meine Glieder. Doch nun war ich den Menschen am Fuß der Esche nahe genug, um einen einzigen, brausenden Ruf zu vernehmen:
»Ein Zeichen!«, schrie eine Stimme aus dem Gewimmel. »Gott will, dass er brennt.«
»Ja, brennen soll er!«, rief auch ein anderer. Im ersten Augenblick dachte ich, man meine den