Die letzte Sinfonie. Sophie Oliver. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sophie Oliver
Издательство: Bookwire
Серия: Ein viktorianischer Krimi mit den Ermittlern des Sebastian Club
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948483340
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den Taktstock noch immer in der Hand und die schreckgeweiteten Augen auf den Tumult gerichtet.

      »Welchen Arzt haben Sie informiert?«, fragte Lord Philip.

      Fletcher Markward schob einen Geiger zur Seite, um Platz für ihn zu machen. »Keinen, wo denken Sie hin? Das habe ich nur gesagt, um für Ruhe zu sorgen.«

      Lord Philip kniete sich auf den Boden und kontrollierte ebenfalls zuerst den Puls des Trompeters. »Wenn Sie möchten, schicke ich nach Doktor Pebsworth. Er wohnt in der Nähe und ist sehr diskret. Allerdings wird er für den bedauernswerten Herrn hier nichts mehr tun können, denn er ist tot.«

      Markward nickte.

      »Ich werde auch gleich Chief Inspector Woodard von Scotland Yard alarmieren«, setzte Lord Philip hinzu.

      Er ließ Annabel kurz allein, um die beiden Telefonate zu führen. Als er zurückkam, saß sie inmitten der Musiker, die sich mittlerweile, wahrscheinlich auf Geheiß von Markward, im Zuschauerraum niedergelassen hatten. Er bedeutete ihr, sitzen zu bleiben, und verharrte selbst wartend am Bühnenrand.

      Außer Atem und mit zerzaustem Haar traf Doktor Pebsworth wenig später ein. Sicher war er mit überhöhter Geschwindigkeit durch Londons Straßen gebraust.

      »Wie heißt der Mann?«, fragte er, nachdem er den Trompeter untersucht hatte.

      »Carl Belami«, antwortete Raphael Wilfried von seinem Platz in der ersten Reihe. Er hatte sich wohl wieder gefangen.

      »Und Sie sind der Dirigent?«

      »Dirigent und Generalmusikdirektor.«

      »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Mister Belami höchstwahrscheinlich keines natürlichen Todes starb.«

      Markward stieß einen erstickten Laut aus, Wilfried schlug eine Hand vor den Mund und ein Raunen ging durch die wartenden Musiker. Wie zu erwarten, wirkten alle erschüttert. Besonders ein dunkelhaariger Herr mit rundem Gesicht und dicken Lippen machte einen betroffenen Eindruck. Mit geschultem Blick erfasste Lord Philip die zitternden Hände, die eine Posaune umklammert hielten. Irgendwie kam er sich vor wie in einem Theaterstück, einer Inszenierung.

      Doktor Pebsworth schnupperte am Leichnam und unterzog ihn einer eingehenden Musterung, sein Kollege sah ihm dabei zu. Der Tote war sicherlich nicht älter als Mitte vierzig gewesen, groß und von schlanker Statur, mit gepflegt gestutztem Vollbart, dichtem Haar und einer dominanten Nase. Als er mit seiner Beschau fertig war, winkte er Lord Philip zu sich.

      »Gift?«, fragte der leise.

      Der Arzt nickte. »Ich vermute Arsen, aber nageln Sie mich nicht darauf fest. Darüber hinaus hat noch eine Darmentleerung stattgefunden, im Augenblick als der Muskeltonus erstarb.«

      Der Auftritt von Chief Inspector Alwin Woodard, im wallenden Mantel, den Hut in die Stirn gezogen und mit ein paar uniformierten Polizisten im Schlepptau, läutete gewissermaßen den zweiten Akt ein. Wie immer sah der Beamte zerknautscht aus, an diesem Abend mehr noch als sonst, fand Lord Philip. Mit Tränensäcken und blutunterlaufenen Augen machte er einen geradezu miserablen Eindruck.

      »Meine Tochter und ihr Mann sind zu Besuch«, raunte er zur Begrüßung, den Blick seines Gegenübers korrekt deutend. »Zusammen mit meinem Enkelkind. Der Junge ist vier Monate alt und hat ständig Blähungen, er schläft so gut wie überhaupt nicht. Genau wie wir.«

      Lord Philip klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter und erklärte rasch die Situation. Woodard notierte mit, runzelte dann die Stirn und fragte: »Und warum, meine Herren, sind Sie schon wieder vor Ort?«

      »Mister Markward hat mich und Mrs Arnholtz zum Konzert geladen. Ich habe Doktor Pebsworth informiert, als Mister Belami kollabiert ist.«

      Woodard kniff die Augen zusammen und warf einen Blick in den Zuschauerraum. »Aha. Mrs Arnholtz. Ist sie tatsächlich nur als Ihre Begleitung hier? Oder steht zu befürchten, dass der Sebastian Club eine weitere weibliche Ermittlerin aufnimmt?« Er stieß ein amüsiertes Grunzen aus, als Lord Philip rasch verneinte.

      Mit hochgezogenen Augenbrauen nickte der Chief Inspector sodann dem Doktor zu.

      »Vermutlich vergiftet«, erklärte der. »Ich würde auf Arsenik tippen, lasse mich aber gerne von Ihrem Pathologen eines Besseren belehren.«

      Woodard seufzte. »Es wird sicher nicht notwendig sein, dass Sie die Mitarbeiter von Scotland Yard stören. Ab hier übernehmen wir. Banes!«, er winkte einen der Uniformierten heran. »Begleiten Sie die Musiker in die Garderobe und passen Sie auf, dass niemand abhandenkommt. Das schließt den Dirigenten mit ein. Ich werde einen nach dem anderen vernehmen, wenn es an der Zeit ist. Das Publikum«, er winkte nachlässig in Richtung Salon, »kann nach Hause gehen. Wird lang genug dauern, ein ganzes Orchester zu verhören.«

      »Wir reisen kommende Woche weiter nach Karlsbad«, warf Mister Wilfried ein. »Auch wenn es pietätlos klingt, aber wir sind auf Europatournee, die Säle sind gebucht, die Konzertkarten verkauft, wir müssen uns an unseren Zeitplan halten.«

      »Wie der aussieht, werde ich Ihnen mitteilen, sobald ich mir ein Bild von der Sachlage gemacht habe«, schnappte Woodard.

      Die Musiker entfernten sich. Einzig der Leichnam blieb inmitten von leeren Stühlen liegen, als wäre er Teil eines dramatisch inszenierten Bühnenbilds. Und Annabel, die letzte Zuschauerin des makaberen Spiels, saß auf ihrem Platz und wartete auf Lord Philip.

      »Sie können gehen, meine Herren. Und Dame. Falls ich Fragen an Sie habe, weiß ich, wo Sie zu finden sind.« Die Laune des Inspektors war ebenso angegriffen wie sein Aussehen. Es kam ihm klar ungelegen, am Samstagabend zu einem Mord gerufen zu werden. Er widmete seine Aufmerksamkeit dem Gastgeber und drehte Lord Philip demonstrativ den Rücken zu.

      »Dann fange ich mal mit Ihnen an. Sie sind Fletcher Markward und dies ist Ihr Haus und Ihre Bühne?«

      Es machte keinen Sinn, länger hierzubleiben. Woodard würde nur noch unleidiger werden.

      »Warum hast du die ganze Zeit über geschwiegen? War es sehr erschreckend für dich?«, fragte Lord Philip Annabel im Wagen. Der Doktor fuhr sie nach Hause.

      »Nein, ich fand es aufregend. Tragisch, natürlich, aber in meinem früheren Leben in Whitchapel habe ich weiß Gott Schlimmeres gesehen.«

      »Das kann ich mir vorstellen«, warf der Doktor ein.

      »Ehrlich gesagt hatte ich den Eindruck, es wurde von mir erwartet, dass ich mich im Hintergrund halte.« Annabel klammerte sich an den Sitz, als der Wagen holpernd um eine Kurve bog. »Es wäre von den Herren sicherlich nicht gut aufgenommen worden, hätte ich als einzige anwesende Dame das Wort ergriffen.«

      Tatsächlich waren außer ihr nur Männer im Konzertsaal gewesen, nachdem das Publikum hinausbefördert worden war. Philip war das nicht aufgefallen, weil er sich zu sehr auf den Todesfall konzentriert hatte. Manchmal kam er sich vor wie ein Bluthund. Sobald es um Mord ging, legte sich in seinem Kopf ein Schalter um, seine Gedanken fokussierten sich und er setzte alles daran, dem Täter auf die Spur zu kommen. Dabei war es die Jagd nach dem Mörder, die ihm am meisten Spaß machte. Er genoss es, wenn sich sein Puls beschleunigte, sobald er Indizien wie Puzzlesteine zusammenfügte. Und er war davon überzeugt, dass Carl Belami einen gewaltsamen Tod gefunden hatte.

      »Wer war der Herr neben dir, Annabel? Der mit der Pomadefrisur, der unablässig auf dich eingeflüstert hat?«

      »Mister Verbier. Er spielt die zweite Trompete. Und dachte wohl, ich wäre ein verschrecktes Weibchen, das Beistand braucht. Oder vielleicht hat ihn der Vorfall auch selbst derartig schockiert, dass er Redebedarf hatte.«

      »Er schien sehr an dir interessiert zu sein.«

      Sie lächelte amüsiert. »Das konntest du beobachten, während du mit einer Leiche beschäftigt warst?«

      »Es war unübersehbar. Hat er nicht sogar versucht, deine Hand zu halten?«

      Nun verzog sie das Gesicht. »Ja. Um mich zu beruhigen, meinte er. Aber wie gesagt, dafür hatte ich keinen Bedarf und ich lasse mich auch nicht von fremden Männern