Während über so manch andere Säugetierart kaum etwas bekannt ist, weiß man über die scheue Wildkatze erstaunlich viel. Neben den Haaren, die sie gerne an Lockstöcken deponiert, sind es auch ihre Hinterlassenschaften, ihre Spuren im Schnee, Schnappschüsse von Wildkameras und Informationen von GPS-Halsbandsendern, die bei den Forschern begehrt sind. Obwohl einiges bei der Datenakquise schiefgehen kann – von zu früh abgestreiften Sendern über zu alte Kotproben beziehungsweise zu schlechtes Haarmaterial, das sich nicht mehr für die genetische Analyse eignet, bis hin zu Wildkameras, die abhandenkommen –, bleibt noch immer genügend übrig, um allerlei Einblicke in die Lebenswelt dieser geheimnisvollen Art zu erhaschen.
Was man findet, hängt aber auch davon ab, wo man sucht. Bis vor Kurzem wurden Wildkatzen in Mitteleuropa nur im Wald gesucht. Nun wird verstärkt auch im Offenland nach ihnen Ausschau gehalten und der Name Felis silvestris, der so viel wie »Waldkatze« bedeutet, muss in Zukunft wohl etwas freier ausgelegt werden.22
Trotz all der verfügbaren Technik gestaltet sich die Arbeit an einem derart heimlich lebenden Tier als Herausforderung und mutet ein wenig wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen an. Aus den Mosaiksteinen, die uns die Katze bisher offenbart hat, versuche ich dennoch ein Bild von einem Wildtier zu zeichnen, das nicht nur mich in seinen Bann zieht, sondern auch viele Forscher. Mehr als einmal habe ich das Funkeln in ihren Augen gesehen, wenn sie von ihrer Motivation erzählten, die Wildkatze zu erforschen. Und das, obwohl viele ihr »Forschungsobjekt« kaum zu Gesicht bekommen. »Ich arbeite seit mittlerweile fast 40 Jahren als Biologe, habe einige Male Luchse, viele Male Wölfe, aber Wildkatzen bisher nur zweimal in meinem Leben gesehen«, sagt etwa Henryk Okarma, der in Polen zu verschiedenen Wildtieren forscht. Zsolt Biró, der an der Szent-István-Universität in der mittelungarischen Stadt Gödöllő arbeitet, war noch gar keine Wildkatzensichtung vergönnt: »Das Tier interessiert mich sehr, aber es ist ein großes Problem, dass es so gut wie unsichtbar ist.« Schon öfter Glück hatte dagegen Hubert Potočnik von der Universität Ljubljana. »Wenn man ihre Tagesruheplätze kennt, stehen die Chancen auf Sichtungen recht gut«, sagt er und fährt fort: »Mich begeistert, dass sie so selbstbewusste Tiere sind und gezielt abwägen, was sie als Gefahr erachten und was nicht.« Nur weil sie einen Menschen riechen oder sehen können, heißt das nämlich nicht, dass sie gleich Reißaus nehmen. Potočnik berichtet, dass er sich manchmal auf 30 oder 40 Meter annähern könne, bevor die Katze auf »Gefahrmodus« umschalten würde.
Manchmal aber überrascht es beide, Forscher und Katze. »Die Geschichte ist total verrückt, aber wahr«, beginnt Stefano Anile. »Ich war gerade dabei, am Ätna in Sizilien nach Wildkatzenlosung zu suchen, als ich plötzlich in meiner Bewegung erstarrte. Wie ein Flamingo stand ich auf einem Bein und wagte gute 30 Sekunden lang nicht mich zu bewegen, denn direkt neben mir saß eine Wildkatze versteckt im Gras. Ich hätte sie mit meinem ausgestreckten Bein berühren können, so nah war sie mir.« Er dachte an die Kamera in seiner Tasche, um diese einmalige Situation zu dokumentieren. Als Tierfotografin kann ich diesen Drang nachvollziehen, andererseits ahnte ich schon, was mir der italienische Forscher, der in den USA arbeitet, als Nächstes erzählen würde. »Sobald ich nach meiner Kamera griff, machte die Katze zwei enorme Sprünge! Ich habe später nachgemessen, es waren fünf Meter aus dem Stand. Das war wie ein Katapult!«, beschreibt er diesen verblüffenden Moment und wirkt dabei noch immer ein wenig fassungslos. »Das Beste kommt aber noch«, sagt er. »Nachdem ich meine eingefrorene Haltung löste, sprang auch noch ein Kaninchen aus dem Gras davon. Die Wildkatze und ich, wir blickten uns in die Augen und sie schien zu sagen: ›Warum um alles in der Welt jetzt und hier?!‹«
Während sie die einen geradezu abgöttisch lieben, sehen sie die anderen nüchtern. In früheren Zeiten war man sich dagegen einig: Die Wildkatze wurde kollektiv gehasst und verfolgt, mit verschiedensten Methoden zur Strecke gebracht, um dem übergeordneten Ziel, der Ausmerzung allen »Raubzeugs« näher zu kommen. So hat man sie zum Riesenvieh überzeichnet, das alles meuchelt, was es zu greifen bekommt. In einem Handbuch für Jäger, Landwirte und Förster aus dem Jahr 1912 heißt es deshalb: »Sie gehört somit zu den schädlichsten Raubtieren unserer Heimat, und es dürfte selbst dem größten Tierfreund schwer werden, ihrem Leben irgendeine sympathische Seite abzugewinnen.«23
Heute sieht das freilich anders aus. Gleichzeitig ist das Bild, das viele Menschen von der Wildkatze haben, nach wie vor von Missverständnissen geprägt. Widerspenstige Hauskatzen werden in einen Topf mit Europäischen Wildkatzen geworfen und überbordende Liebesbekundungen zeugen von einem fehlgeleiteten Wildtierverständnis (»Die ist so süß. Darf ich die mitnehmen?«). Wildkatzen sind alles andere als Streicheltiere, trotzdem werden sie mitunter vom Waldspaziergang mit nach Hause genommen, fälschlicherweise und in guter Absicht, aber der Schaden ist damit schon angerichtet. Gut, dass es Menschen gibt, die sich bei solch unglücklichen Verwechslungen der Wildtiere annehmen und alles dafür tun, um sie wieder in die Natur entlassen zu können.
Während die einen einfach über die Tiere stolpern, müssen Forscher all ihren Grips bemühen, um den Waldkatzen Informationen abzuluchsen. Dabei wenden sie regelrechte CSI-Methoden an, wie sie sonst nur bei der Aufdeckung von Kriminalfällen zum Einsatz kommen. Manchmal aber ist es auch der Zufall, gekoppelt mit einer gehörigen Portion Glück, der dazu führt, dass die Tiere ihre Verstecke preisgeben. In Österreich weiß man diese schicksalhaften Fügungen zu schätzen.
Apropos »Waldkatze«. Wie viel Wald steckt in dieser Katze eigentlich drin? »Für mich ist die Wildkatze immer noch ein Steppentier!«, sagt Biologe Manfred Trinzen aus der Eifel. Und wie war das mit dem Einzelgängertum? Abgesehen von Löwen gelten Katzen in der Regel als notorische Einzelgängerinnen oder haben manche von ihnen, wie die Wildkatze, vielleicht doch eine soziale Ader?
All dem möchte ich auf den folgenden Seiten auf den Grund gehen, genauso wie dem heiklen Thema des Fremdgehens bzw. seiner Konsequenzen. Wildkatzen lassen sich nämlich – mal mehr, mal weniger – auch mit Hauskatzen ein. Möglichkeiten dafür gibt es genug. Mehr als 77 Millionen Hauskatzen herrschen in den Ländern der Europäischen Union über Sofas und Vorgärten.24 In Schottland sorgt diese artübergreifende Liaison für berechtigte Sorgenfalten. Sorgen bereiten auch die vielen zivilisatorischen Einschnitte in die Landschaften Europas, die Wildtiere zu gefährlichen Spießrutenläufen veranlassen. Gleichzeitig fungiert die Wildkatze als Hoffnungsträgerin für sich selbst und viele andere Arten, denn mit ihr als charismatischer Flaggschiffart soll die Verbindung von Lebensräumen vorangetrieben werden. 20 000 Kilometer Vernetzungen quer durch Deutschland lautet die ambitionierte Zielvorgabe. Beim Lokalaugenschein in Thüringen konnte ich mir ein Bild davon machen, wie weit diese Visionen gediehen und wie realistisch sie sind.
Ein Puzzleteil fehlt aber noch immer. Als Tierfotografin liebäugle ich schon seit Jahren damit, eine Europäische Wildkatze mit der Kamera einzufangen. Jetzt ist die Zeit reif. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass die scheuen Katzen alles andere als einfach zu erwischen sind. Auch habe ich keine 40 Jahre Zeit, um ein, zwei Sichtungen zustande zu bringen, das würde die Veröffentlichung des Buches wohl geringfügig verzögern.
Es braucht also eine Geheimwaffe, die sich über die letzten Jahre bei vielen scheuen Wildtieren schon mehrfach bewährt hat. Es braucht »Operation Fotofalle«, sprich eine hochauflösende Spiegelreflexkamera, ein Weitwinkelobjektiv, eine Kiste, in der alles verstaut wird, Blitze und Bewegungsauslöser, Spanngurte und Klettverschlüsse.
Vielleicht gelingt es mit diesen vereinten Kräften von Wort und Bild, ein Wildtier, das regelmäßig mit unseren schnurrenden Hauskumpanen verwechselt wird, als eigenständige, emanzipierte Art zu etablieren, die aus ihrem Schatten und jenem ihres »großen Bruders« tritt. Der Luchs ist nämlich nicht die einzige wilde Katze Europas. Neben ihm funkeln die grünen Augen von »Europas kleinem Tiger« und verleihen unserem Kontinent einen Hauch Exotik, einen Touch Arroganz und