Ein paar Jahre bevor ich mit dem heutigen Nationalpark-Direktor Christian Übl die Wendlwiese besuchte, schrieb der Nationalpark Thayatal Schlagzeilen. Seit den 1950ern galt die Wildkatze in Österreich als »ausgestorben« oder »verschollen«3, aber 2007 gab sie ein kräftiges Lebenszeichen von sich. Das Aufstellen von rund 25 bedufteten Holzpflöcken, die im Zoologenjargon als »Lockstöcke« bezeichnet werden, hatte in den Thayatalwäldern Wirkung gezeigt. Anhand hängen gebliebener Haare und der in ihnen gespeicherten Erbsubstanz ließ sich die Europäische Wildkatze erstmals wieder in Österreich nachweisen.
Das kam in meiner Heimat einem positiven Naturschutzerdbeben gleich und mündete 2009 in der Gründung der Plattform Wildkatze, die Akteure aus Wissenschaft, Naturschutz, Forst- und Jagdwirtschaft bündelte, um mehr über die Wildkatze in Österreich herauszufinden und sich für ihren dauerhaften Schutz einzusetzen.
Seither hat sich einiges getan. Mehr als 660 Meldungen über echte oder vermeintliche Wildkatzen sind bei der Meldestelle der Plattform bisher eingegangen, davon haben sich bisher 57 als eindeutige Nachweise entpuppt (Stand Ende 2020). Ingrid Hagenstein vom Naturschutzbund Österreich, die sowohl die Plattform als auch die dazugehörige Koordinations- und Meldestelle seit Anbeginn leitet, verrät uns, für welche Gebiete sie besonders zuversichtlich ist: »Neben dem Nationalpark Thayatal sieht es in Kärnten und in der Wachau am verheißungsvollsten mit einer Wildkatzenpopulation aus.« Allein von Jänner bis Mai 2020 lieferte die im Verborgenen lebende Katze in einem Wachauer Hangwald, der den Thayatalwäldern in vielerlei Hinsicht ähnelt, rund 40 Schnappschüsse via Wildkamera. Darüber hinaus ließ sie sich punktuell schon in allen Bundesländern bis auf Wien und Salzburg blicken. Bemerkenswert sind die Begegnung eines Jägers mit einer Wildkatze im Tiroler Paznauntal auf 1150 Metern Seehöhe und der Fund einer toten Wildkatze auf 1600 Metern in der Steiermark.4 Derartige Höhenluft schnuppern Wildkatzen für gewöhnlich nicht, und abgesehen von diesen beiden isolierten Fällen trudelten bisher keine weiteren Indizien für vergleichbar pionierhafte Wildkatzen ein, zumindest nicht aus Österreich.
Das mag auch daran liegen, dass es nach wie vor schwierig ist, in Österreich im großen Stil nach der Wildkatze zu suchen. Obwohl die scheue Jägerin seit Jahren eindeutige Spuren hinterlässt, wird sie auf der nationalen Roten Liste nach wie vor als »ausgestorben« geführt. Die Konsequenz daraus: Es fehlt Geld für zielgerichtete Naturschutzarbeit. Das ändert sich aber nur, wenn sich der Gefährdungsstatus ändert. »Wir brauchen dringend Nachweise für eine erfolgreiche Fortpflanzung der Wildkatze in Österreich, erst dann kann sie neu eingestuft werden, als ›vom Aussterben bedroht‹«, sagt Ingrid Hagenstein. Sobald sich die Tiere nämlich vermehren, gibt es sehr wahrscheinlich auch eine Population. Ab diesem Zeitpunkt greifen die europäischen Naturschutzverpflichtungen, die für gefährdete Tierarten wie die im Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie verankerte Wildkatze5 einen »günstigen Erhaltungszustand« verlangen. Und spätestens dann müssen umfangreichere Fördermittel auf die Beine gestellt werden.
Vielleicht hat sich das ockergrau melierte Wesen mit den tigerähnlichen Streifen nie ganz aus unseren Wäldern verabschiedet und hat an verschwiegenen Rückzugsorten inkognito überlebt. »Es mag Zuwanderung etwa aus Deutschland geben, aber ich gehe auch davon aus, dass die Wildkatze nie ganz ausgestorben war«, mutmaßt Experte Christian Übl.
Hundertprozentig wissen werden wir es nie. Klar ist dagegen, dass das Tier scheu ist, sich von Menschen in der Regel fernhält und – zumindest in hiesigen Breiten – zurückgezogen in den Wäldern lebt. Wie ein Phantom.
Ist das Grund genug, einer einzigen Art ein ganzes Buch zu widmen? Ist es heutzutage überhaupt noch sinnvoll, sich mit einem Tier so intensiv zu beschäftigen?
Heute muss alles »nützlich« sein. Und was »nützlich« ist, lässt sich im besten Fall in Geld aufwiegen. Statt von Wildkatzen, Füchsen und Mardern, von Stieleichen, Eschen und Weißtannen, von Türkenbund, Diptam und Perlgras oder von Weinbergschnecken, Hirschkäfern, Schleimrüblingen, Koboldmoosen und Bartflechten zu reden, abstrahieren wir lieber und nennen es »Ökosystemleistungen«.6 Wie viel eine Wildkatze wert ist, lässt sich schwer sagen, dagegen ist ein Stück Ozean oder Land leichter quantifizierbar. Eine Studie aus dem Jahr 2012 taxierte zehn Großlebensräume, vom Grasland über tropische und temperate Wälder bis hin zu Küstenlebensräumen und Korallenriffen, auf Werte zwischen 490 und 350 000 Dollar pro Jahr und Hektar.7
Ob diese Form der Quantifizierung zielführend ist, um uns den Wert der Natur näherzubringen, darüber scheiden sich die Geister. Hubert Weinzierl, der von 1969 bis 2002 als Vorsitzender des Bund Naturschutz in Bayern fungierte und federführend daran beteiligt war, die Wildkatze ab den 1980er-Jahren wieder in Bayern heimisch zu machen, formuliert es im 2001 erschienenen Buch »Die Wildkatze. Zurück auf leisen Pfoten« folgendermaßen: »Umweltschutz […] ist berechenbar in Zeit und Geld und Grenzwerten. Luftreinhaltung und Gewässersanierung leuchten jedem ein und sind […] konsensfähig geworden. Die Libellen in den Flussauen oder die Collembolen in der Handvoll Erde, der Pirolruf und die Wildkatze sind es noch nicht.«8 Ihr Geldwert lässt sich eben nicht beziffern, obwohl sauberes Wasser, gesunde Böden und reine Luft mit all den Lebewesen, die die Biosphäre bewohnen, untrennbar verbunden sind.
Das wird uns spätestens dann bewusst, wenn Ökosysteme nicht mehr so funktionieren, wie sie sollten. Nährstoffe, die in einen See gelangen, lösen sich nicht einfach auf, sondern regen das Pflanzenwachstum an. Je mehr Nährstoffe, desto mehr Pflanzen. Meist sind es die Algen, die am raschesten auf Nitrat- und Phosphorschübe reagieren. Sobald sie jedoch absterben, beginnen Kleinlebewesen wie Schnecken, Käfer oder Bakterien mit deren Zersetzung, wobei sie große Mengen an Sauerstoff veratmen, bis schließlich nichts mehr übrigbleibt. Der See »kippt«, die Fische treiben mit dem Bauch nach oben im Wasser.
Jedes Rädchen hat eine Funktion, oft auch mehrere, und interagiert mit den anderen Rädchen. Raubtiere beziehungsweise Beutegreifer, wie sie heute oft wertneutral bezeichnet werden, sind ebenfalls Rädchen im Gefüge des Lebens. Wölfe dezimieren Pflanzenfresser wie Rothirsche oder Rehe, üben Druck auf kleinere Räuber wie Fuchs und Goldschakal aus und überlassen die Kadaver ihrer Beutetiere Geiern und Adlern. Braunbären sorgen dafür, dass Pflanzen wie Heidelbeeren besser keimen, nachdem sie einmal ihren Verdauungstrakt passiert haben. Und Wildkatzen? Die effizienten Jägerinnen regulieren gemeinsam mit anderen kleinen Räubern Wühl-, Scher-, Waldmäuse und Co. Wir Menschen ignorieren diesen »Wert« gern, weil Beutegreifer etwa um dieselbe Ressource mit uns konkurrieren, weil sie uns selbst bedrohlich werden könnten oder uns schlichtweg stören. In früheren Jahrhunderten regelte man das einfach, indem die Gefährlichkeit der verschiedenen Arten maßlos übertrieben wurde. Erzählungen berichteten von Wölfen und Bären, die Gehöfte oder Dörfer der Menschen attackierten, oder von Bartgeiern und Steinadlern, die kleine Kinder durch die Luft entführten. Der gezielte Rufmord zeigte seine Wirkung, auch bei der Wildkatze.9
Hubert Weinzierl meint, dass die Frage nach dem Wert einer Wildkatze in letzter Instanz eine Frage der Moral sei und der Einsicht bedürfe, »dass jede Art ein Lebensrecht wie wir selbst und einen Wert an sich besitzt«.10 Viele werden dem zustimmen, aber es bleibt der berechtigte Zweifel, ob uns dieser philosophische Ansatz im Innersten berührt. Inspirieren uns vielleicht eher die konkreten Ökosystemleistungen oder das Wissen über die Zusammenhänge in der Lebenswelt, um Libelle, Pirol oder Wildkatze wertzuschätzen und vielleicht sogar aktiv für sie einzutreten?
Ich schätze, die Botschaft kommt erst dann an, wenn sie an ein Aha-Erlebnis geknüpft ist. Andrea Andersen sieht das ähnlich. Beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), einem der größten deutschen Umweltverbände, ist sie verantwortlich für die Freiwilligeneinbindung rund um die Wildkatze und sie weiß, wie nachhaltig es die Menschen prägt, wenn sie sich bei der »Lockstock-Betreuung« engagieren: »Durch die regelmäßigen Kontrollen der Lockstöcke nehmen die Menschen die Natur intensiv wahr. Selbst wenn sie keine Hinweise auf Wildkatzen entdecken, lernen sie deren Lebensraum kennen, beobachten andere Tierarten und erleben den Wald zu unterschiedlichen Witterungen und Tageszeiten. Viele genießen es einfach, Zeit im Wald zu