Der Krieg. Ilja Steffelbauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilja Steffelbauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783710601385
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beschäftigt sind – intellektuell immer noch zuhause sind: das agrarische Zeitalter.

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      Das altsteinzeitliche Paradies war voll mit jagdbarem Wild. In der neolithischen Welt musste man sich im Schweiße seines Angesichts nähren.

      Lucas Cranach der Ältere (1472–1553): Paradies, 1530; Staatliche Kunstsammlung Dresden, Gemäldegalerie

      Die Fenster in die menschliche Vergangenheit, die Gardner und Chagnon aufstießen, blicken nicht auf die lange altsteinzeitliche Kinderstube der Menschheit, sondern auf die früheste Entwicklungsstufe jener neolithischen Welt, in der wir trotz allem technischen Schnickschnack heute noch leben. Zumindest sind unsere beherrschenden Obsessionen so geartet, dass wir den Dani mit ihren Steinäxten und Penisfuteralen näher sind als jedem Menschen, der in den 190.000 Jahren vor der früher sogenannten „Neolithischen Revolution“ gelebt hat. Wir sind besessen von Besitz und der Kontrolle über Land und Güter, was auch Besitzansprüche über andere Menschen – heutzutage meist unsere Partner und Kinder, nur mehr selten Sklaven oder Leibeigene – miteinschließt. Wir rackern uns ab, um diesen zu erlangen und sicherzustellen. Wir teilen die Welt in Angehörige unseres Stammes und andere. Wir gehorchen Häuptlingen und Priestern und finden es richtig, dass sie sich mit Reichtümern schmücken. Wir sind der Meinung, dass unser Gott stärker ist als der des Nachbarstammes und sind diesbezüglich immer noch ziemlich reizbar. Schließlich und endlich sind wir bereit, für diese Götzen – Besitz, Stamm und Gott –, wenn unsere Anführer es wollen oder wir individuell zu dem Schluss kommen, dass es angemessen wäre, einem Artgenossen den Schädel einzuschlagen. Durch und durch (jung-)steinzeitliche Sentiments also.

      In den 190.000 Jahren davor hatte das menschliche Leben eine gänzlich andere Qualität. Einblick in diese Phase der Menschheitsgeschichte geben uns, von den archäologischen Funden abgesehen, vor allem ethnologische Forschungen an jenen wenigen Völkern, die noch in historischer Zeit als altsteinzeitliche Sammler und Jäger lebten. Die San – die sogenannten „Buschleute“ der Kalahari – sind von diesen recht bekannt geworden, doch finden sich isolierte Sammler-und-Jäger-Populationen immer noch auf allen Kontinenten, auch wenn sie rasch im Verschwinden begriffen sind. Sieht man sich dabei jene Gruppen an, die am wenigsten mit sesshaften Ackerbauern und der modernen Welt in Kontakt gekommen sind, offenbart sich eine phantastische Welt, die so unglaublich erscheint, dass sie es selten in die populäre Öffentlichkeit schafft. Sie passt so gar nicht zur immer noch vorherrschenden Erzählung von Fortschritt und Aufstieg aus einer dunklen Vergangenheit, in der das Leben, um Thomas Hobbes zu zitieren, „nasty, brutish and short“ gewesen sein soll. Ein, zwei Dutzend Menschen wandern gemeinsam durch die Wildnis. Das kulturelle Inventar ist bescheiden, aber hinreichend an die Umwelt angepasst. Diese Menschen sind weder dumm noch einfallslos. Sie wissen nur sehr genau, was man brauchen kann, und was nicht. Immerhin hatte man Jahrzehntausende Zeit das herauszufinden. Der Lebensunterhalt wird durch die Jagd auf Tiere, Fischen und das Sammeln wilder Früchte sichergestellt. Doch noch erstaunlicher sind die sozialen Verhältnisse und die Geisteswelt dieser Menschen, die uns die archäologischen Überreste unserer steinzeitlichen Vorfahren leider nur ungenügend überliefern. Wir können es aber an den rezenten Vertretern dieser Lebensweise gut beobachten: Es gibt keinen Besitz. Warum auch? Jedes einzelne Objekt im kulturellen Inventar kann jedes Mitglied der Gesellschaft relativ leicht jederzeit aus den in der Umwelt reichlich verfügbaren Rohstoffen herstellen. Manches erfordert mehr Mühe, aber das sind meist Objekte wie Steinäxte oder ein Blasrohr, von denen man nicht mehr als ein, zwei im Leben braucht. Mehr zu besitzen hat ohnehin keinen Sinn. Warum soll man zwei Bögen oder zwei Steinäxte haben wollen? Man kann ohnehin immer nur eine gleichzeitig benutzen. Außerdem müsste man seinen angehäuften Besitz bei den häufigen Lagerwechseln mitschleppen. Eine unnötige Mühe. Es gibt auch keinen Diebstahl. Wie soll man in einer Gruppe von zwanzig Personen davon profitieren, dass man jemandem etwas wegnimmt? Jeder weiß, dass man der Dieb ist. Und keiner findet das gut. Es wird ohnehin alles geteilt. Wenn die Beute ins Lager kommt, legen die Jäger – ja, es sind tatsächlich meist die Männer – sie beim Feuer auf die Erde und zerteilen sie. Jeder nimmt sich dann, was er will. Die klassische Methode an Kindergeburtstagen, einen die Torte aufschneiden und einen anderen austeilen zu lassen, funktioniert auch hier. Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind informell, aber recht stabil, zumindest so lange es nötig ist Kinder zu versorgen. Selbst dann ist eine Trennung keine Katastrophe, werden die Kinder doch ohnehin von der ganzen Gruppe gemeinsam aufgezogen. Im Endeffekt treffen die Frauen die Entscheidung, und die achten schon darauf, sich nicht mit einem treulosen Casanova einzulassen. .Aus nachvollziehbarem Eigeninteresse. Man hat ohnehin viel Zeit, Beziehungen zu pflegen, denn die durchschnittliche Tagesarbeitszeit beträgt nur wenige Stunden. Auf die Jagd geht man, wenn man großen Beutetieren nachstellt, ohnehin nur alle paar Tage. Ist die Beute kleiner, muss man öfter ran. Kommt es zu Konflikten – was auch in diesem scheinbaren Hippie-Paradies vorkommt –, arbeitet die ganze Gruppe daran, diese beizulegen. Jeder kriegt schließlich alles mit und Privatsphäre gibt es keine. Man ist ja aufeinander angewiesen, weswegen sich alle darum bemühen, die Wellen zu glätten. Geht es wirklich nicht anders, trennt man die Streithähne – der häufigste Grund für böses Blut ist übrigens der Streit um einen begehrten Partner –, indem man einem der beiden nahelegt, sich einer anderen Gruppe anzuschließen. Die Zusammensetzung der Gruppen fluktuiert tatsächlich recht häufig. Wenn man sich auf der Wanderung begegnet, ist es eine der seltenen Gelegenheiten sich auszutauschen. Neue Freundschaften entstehen und es ist nichts dabei, wenn sich dann jemand einige Zeit einer anderen Gruppe anschließt. So lernt man andere Leute kennen, sieht einen neuen Teil der Jagdgründe und lernt vielleicht den einen oder anderen neuen Kniff, den die eigenen Leute noch nicht kannten. Wer sollte es einem auch verbieten? Es gibt keine Häuptlinge, keine Priester. Die einzige Art von Führerschaft, die Sammler und Jäger kennen, ist die des Kompetentesten. Der erfahrenste Jäger führt die Jagd an. Die erfahrenste Frau sucht den Lagerplatz aus. Da gibt es wenig zu diskutieren. Jeder weiß schließlich, wer Ahnung hat und wer nicht. Wenn unterschiedliche Meinungen bestehen, diskutiert man das halt aus. Wenn die Lage kritisch ist – etwa weil der Tiger ums Lager schleicht –, weiß jeder, wer jetzt das Sagen hat. Man kennt einander gut genug. Was es nicht gibt, in dieser seltsamen Welt der Sammler und Jäger, sind gewaltsame Konflikte zwischen Gruppen. Ja, es gibt Meinungsverschiedenheiten, sogar Gewalt. Streitereien können schon mal zu einer Prügelei führen. Junge Männer sind – wie überall – schnell dazu geneigt, eine Differenz mit den Fäusten auszutragen. Doch geht dies selten über eine zünftige Rauferei hinaus. Totschlag im Affekt ist wahrscheinlich das einzige Gewaltverbrechen, das es in diesen Gesellschaften gibt. Und das ist extrem selten. Gruppen gehen so gut wie nie aufeinander los. Warum sollten sie auch? Das Jagdgebiet ist groß genug und die Natur so übervoll, dass es nichts gibt, worum es sich zu kämpfen lohnt. Geht man einander aus irgendeinem Grund auf die Nerven, zieht eben eine Gruppe fort. Woanders ist es auch schön und weiter oben am Fluss springen auch die Fische.

       Ist dies das Paradies, das Goldene Zeitalter, von dem so viele Mythen behaupten, dass es am Anfang der Menschheitsgeschichte stand?

      Als der amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins diese Darstellung einfacher Sammler-und-Jäger-Gesellschaften erstmals bei der Konferenz „Man the Hunter“ 1966 vorstellte, erschütterte er einen wissenschaftlichen Konsens, der zumindest seit den Philosophen der Aufklärung bestanden hatte. Der kulturelle und zivilisatorische Fortschritt der Menschheit wurde als ein stetiger, mühsamer Aufstieg aus Armut und ständiger Bedrohung zu materiellem Wohlstand, Freiheit und Sicherheit im Kontext eines wohl eingerichteten Staatswesens angesehen. Als John Kenneth Galbraith 1958 den Begriff der „Überflussgesellschaft“ prägte, war er gemäß der klassischen Theorie der Nationalökonomie der Überzeugung, dass die Bedürfnisse des Menschen unendlich wären. Erst die kapitalistische Industriegesellschaft habe nach Jahrtausenden der Deprivation die Mittel geschaffen, um den meisten zumindest das meiste zu ermöglichen, was sie sich nur wünschen konnten. In der Wirtschaftswunderwelt der amerikanischen Fünfziger, wo alles, was bisher als Luxus galt – Kühlschränke, Fernseher, ein komfortables Eigenheim, Fernreisen – plötzlich für die breite Masse erschwinglich wurde, erschien das als eine durchaus glaubhafte Theorie. Dem setzte Sahlins eine ebenso machtvolle Erzählung entgegen, für die er nicht zufällig Galbraiths