Frankreich - eine Länderkunde. Henrik Uterwedde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Henrik Uterwedde
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783847411642
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Armutsgefährdung und Abstiegsängste[12] hinaus. Es handelt sich auch um eine manifeste Orientierungskrise. Das französische Integrationsmodell, das seit einem Jahrhundert Einwanderern die Chance bot, französische Staatsbürger zu werden, wird aufgrund wachsender Probleme der Integration grundsätzlich in Frage gestellt zugunsten eine Politik der Abgrenzung und des Ausschlusses von Migranten (→Kap. 8.1). Das tradierte Wirtschafts- und Sozialmodell ist seit langem erschöpft, wird aber von vielen Gruppen krampfhaft gegen vermeintliche innere und äußere Feinde verteidigt; das blockiert auch notwendige Veränderungen, die zu seinem Erhalt wichtig wären. Frankreich profitiert von Europa, seine Wirtschaft ist die fünftstärkste der Welt und zählt zu den Gewinnern der Globalisierung. Dennoch hat sich ein Meinungsklima ausgebreitet, das in der offenen Wirtschaft und der europäischen Verflechtung die Ursache aller französischen Probleme sieht und nach Abschottung und Protektionismus ruft. Ähnlich bizarr ist die in Frankreich übliche Verteufelung der Marktwirtschaft und auch vorsichtiger liberaler Reformen als „Ultraliberalismus“ – angesichts einer Staatsquote von über 56 %, eines gut ausgebauten Sozialstaates (→Kap. 7.2) und eines weiterhin vielfältigen Staatseinflusses in der Wirtschaft (→Kap. 4.1) eine absurde Scheindebatte.

      Die politische Klasse hat wenig dazu beigetragen, diese Orientierungskrise zu überwinden. Im Gegenteil haben konservative wie sozialistische Regierungspolitiker diese Vorurteile oft genug noch genährt, anstatt gegen sie anzugehen. Sie haben vor allem nicht den Mut und nicht die Kraft aufgebracht, Klartext zu reden und notwendige Reformen vorzunehmen, und das Land damit weiter in die Krise getrieben. Ihr halbherziges Agieren ist zunehmend auf Unverständnis gestoßen. Zusätzlich haben das abgehobene Agieren der politischen Klasse mit ihren Pariser Machtspielen wie auch fragwürdige, ja skandalöse Verhaltensweisen (wie etwa die Scheinbeschäftigung der Ehefrau des konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon, die den Staat eine knappe Million Euro gekostet hat) den seit lange schwelenden Vertrauensverlust zwischen den Bürgern und den Institutionen, besonders den Parteien und der Regierung (→Kap. 2.4), weiter verschärft.

      Radikalisierung und politische Spaltungen

      All dies hat dazu beigetragen, dass die Präsidentschaftswahl zu einer wahren Generalabrechnung der Bürger mit den herrschenden Parteien geraten ist. Zahlreiche führende Politiker wurden schon im Vorfeld gnadenlos abgestraft, allen voran die beiden früheren Präsidenten, der Sozialist François Hollande (er wagte es angesichts desaströser Umfragewerte gar nicht erst, wieder zur Wahl anzutreten) und sein Amtsvorgänger, der Konservative Nicolas Sarkozy (er wurde bei den Vorwahlen der Konservativen deutlich geschlagen). Im ersten Wahlgang schieden dann die Kandidaten der beiden[13] klassischen Regierungsparteien – Sozialisten und die konservativen Republikaner – aus, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Regierungsverantwortung abgelöst hatten: Das hatte es noch nie gegeben.

      Vom Versagen der etablierten Parteien profitierten die links- und rechtsextremen Kräfte. Der rechtsextreme Front National erzielte mit 7,6 Millionen Stimmen (21,3 %) im ersten und knapp 11 Millionen (34 %) im zweiten Wahlgang sein historisch bestes Wahlergebnis. Auch der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon konnte mit 19,6 % im ersten Wahlgang sein bisher bestes Ergebnis feiern und zur Demütigung des sozialistischen Kandidaten beitragen, der auf katastrophale 6,4 % abstürzte. Insgesamt haben im ersten Wahlgang über 45 % der Wähler für extremistische Kandidaten gestimmt, die außer Fundamentalopposition, pauschaler Antiglobalisierungspolemik, dezidiert antieuropäischen und teilweise ausländerfeindlichen Parolen keinerlei Lösungsvorschläge zu bieten hatten. Dies zeigt das ganze Ausmaß an politischer Desorientierung, Frustration und Verbitterung in weiten Teilen der Wählerschaft. So zeigt sich die französische politische Landschaft gespalten wie nie zuvor. Zwischen der radikalen Linken, den Sozialisten, den rechtslastigen Konservativen, den Rechtsextremen und der in ihren Konturen noch etwas unklaren Bewegung der Mitte bestehen tiefe Gräben.

      Triumph der Mitte?

      Angesichts dieser Polarisierung und Radikalisierung der Wähler gleicht es fast einem Wunder, dass ausgerechnet der Kandidat der Mitte, Emmanuel Macron, die Wahl schließlich für sich entscheiden konnte. Auch er war mit einer grundlegenden Kritik am herrschenden Politikbetrieb angetreten, der das Land in den vergangenen Jahren zunehmen gelähmt hatte. Im Unterschied zu den anderen Kandidaten verband er diese Fundamentalkritik mit einem realistischen, gangbaren Programm der Erneuerung. Der 39-Jährige, ein typisches Produkt der französischen Eliteschulen (→Kap. 9.3), ist noch ein Neuling im politischen Geschäft. Als Mitarbeiter von Präsident Hollande im Präsidialamt (2012) sammelte er seine ersten Erfahrungen, bevor er 2014 zum Wirtschaftsminister ernannt wurde. Dort fiel er durch seinen ausgeprägten Reformwillen auf, eckte damit aber bei der Mehrheit der sozialistischen Minister und Abgeordneten an. So war es folgerichtig, dass er 2016 die Regierung verließ und sich mit der von ihm gegründeten Bewegung En Marche! (etwa: Vorwärts!) auf die Präsidentschaftswahl vorbereitete. Macron positioniert sich politisch in der Mitte und plädiert für ein Bündnis der „fortschrittlichen“, reformbereiten Kräfte gegen die „Konservativen“. Er will die in Frankreich bislang vorherrschende Links-Rechts-Polarisierung überwinden, die sich in einem sterilen, feindlichen Gegeneinander erschöpft hat, anstatt nach Kompromissen und Koalitionen zu suchen [14](→Kap. 2.4). Seine Kandidatur war ein doppeltes Wagnis: Bisher wurden alle Kandidaten der Mitte zwischen den dominanten Parteien der Linken und der Konservativen zerrieben – eine unerbittliche Folge des Mehrheitswahlrechts (→Kap. 3.2). Noch nie zuvor ist ein derart junger Kandidat mit vergleichsweise geringer politischer Erfahrung, zudem ohne Unterstützung einer etablierten Partei, in das höchste Staatsamt gelangt.

      Eine Herkulesaufgabe

      Vor Macron liegt ein schwerer Weg. Die Reformbaustellen sind vielfältig und politisch teilweise hoch explosiv. Die tiefen Risse in der Gesellschaft sind nicht verschwunden. Man hat von den „zwei Frankreichs“ gesprochen: Das Frankreich der ländlichen Regionen und kleinen Städte, der niedrigen Schulabschlüsse, geringen Einkommen und der einfachen sozialen Schichten (Arbeiter, einfache Angestellte) sieht sich als Opfer der Globalisierung und des wirtschaftlichen Wandels. Es hat sich besonders stark für Marine Le Pen, ihren aggressiven Antiliberalismus und ihr Versprechen auf Schutz durch nationale Abschottung ausgesprochen. Dagegen steht das Frankreich der Großstädter, der Akademiker und der gut verdienenden mittleren bzw. höheren Angestellten, das die Zukunft des Landes optimistisch einschätzt. Hier hat Macrons Programm einer offenen Gesellschaft, einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung des Landes und einer Wiederbelebung der Europäischen Union besonders viel Widerhall gefunden. Der Slogan von den zwei Frankreichs ist allerdings überzogen, weil die vielfältigen politischen Spaltungslinien in Wirklichkeit quer durch die sozialen Gruppen und Schichten gehen. Dennoch: Der neue Präsident wird versuchen müssen, die Gräben einzuebnen, die Franzosen wieder ein Stück weit zusammenzuführen, neue Angebote der Teilhabe zu machen, den sozialen und den nationalen Zusammenhalt zu stärken und verlorenes Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen. Nur so können die Frustrationen, die Resignation und die Bürgerwut in positive Energie umgewandelt werden.

      Emmanuel Macrons Vertrauensvorschuss ist nicht groß. Viele Franzosen haben ihn nur gewählt, um Marine Le Pen zu verhindern; seinen Plänen stehen sie mehrheitlich skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüber. Die verbreiteten Feind- und Zerrbilder seiner zahlreichen Gegner, die ihn als Ex-Banker, kalten Neoliberalen und Vertreter der Reichen ohne soziale Ader dargestellt haben, wirken nach. Die hohe Wahlenthaltung (25,4 %) wie auch die vielen ungültigen Stimmen (11,5 %) zeigen, dass er viele Franzosen erst noch überzeugen muss. Das erfordert eine gut ausbalancierte Politik, die liberale Erneuerung und sozialen Schutz miteinander verbindet. Macron will deshalb die geplanten angebotsorientierten Reformen (Vereinfachung des Arbeitsrechts, Entlastungen für die Unternehmen, weniger bürokratische Auflagen für Klein- und Mittelunternehmen) durch [15]Maßnahmen ergänzen, die die Kaufkraft der breiten Bevölkerung erhöhen (weitgehende Abschaffung der Wohnraumsteuer, Senkung der Arbeitnehmer-Sozialabgaben, Leistungsverbesserungen der Krankenversicherung), den Brennpunktvierteln der Vorstädte neue Perspektiven geben (Halbierung der Klassengrößen in den Grundschulen; mehr Lehrer) und Signale für mehr Beschäftigung aussenden (berufliche Qualifizierung von Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen; Reform der beruflichen Bildung).