Babrak konnte das nicht nachvollziehen. „Allah verbietet uns den Genuss des Weines und anderer berauschender Getränke. Wenn ich ich jetzt wie ein Christ argumentieren würde, könnte ich sagen: Ich trinke möglichst viel davon, um es mir abzugewöhnen!“ Die anderen am Feuer lachten, mit Ausnahme des Mönchs. Dann fügte Babrak noch hinzu: „Es wundert mich, dass es Menschen gibt, die bereit sind, für einen Glauben zu sterben, dessen Grundsätze sich so leicht in ihr Gegenteil verkehren lassen...“
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Die Nächte waren oft empfindlich kalt und Li fand kaum Schlaf, obwohl sie oft von den Strapazen des Tages eigentlich vollkommenen erschöpft war. Die Lagerfeuer brannten zumeist recht schnell herunter und waren schon ein paar Stunden vor dem morgendlichen Aufbruch erloschen. Viel Zeit zum Brennholz suchen blieb ohnehin nicht, wenn am Abend das Lager aufgeschlagen wurde. Und davon abgesehen, war es mühsam genug Brennbares zusammenzusuchen, um daraus ein Feuer machen zu können, das eine Weile warm hielt. Am Tag wurde es dann zumeist recht warm und die Sonne brannte nur so von dem strahlend blauen und sehr klaren Himmel, der sich wie ein riesiges blaues Dach von Horizont zu Horizont spannte.
Das lahmende Kamel wurde schließlich geschlachtet, denn es hätte sonst die Karawane nur aufgehalten. Was genau mit ihm war, bekam Li nicht mit. Dazu verstand sie auch die Treiber zu schlecht. Aber es schien ernst zu sein. Li, Gao und Meister Wang wurden dazu angehalten, dabei mitzuhelfen, dem Kamel das Fell abzuziehen und das Fleisch aufzuteilen.
„Es ist wohl einfach nicht mehr zu retten gewesen“, meinte Gao. „Und jeder von uns, der irgendeine Schwäche zeigt, wird es wohl ähnlich ergehen.“
Ein Teil des Fleisches wurde am Feuer verzehrt.
„Besser ihr tragt es in euren Mägen mit euch herum, als dass es die Aasfresser als ihre Beute davontragen!“, meinte Babrak. Ein paar Geier kreisten bereits über den Bergen und warteten anscheinend nur darauf, mit ihren Schnäbeln wenigstens die Knochen abschaben zu dürfen, denn mehr wollte Babrak der Feilscher ihnen nicht übrig lassen.
„Halte Maß, auch wenn dir der Magen knurrt und du einen Hunger hast, als hättest du schon lange nichts mehr gehabt!“, warnte Meister Wang seine Tochter.
„Aber das trifft doch zu, Vater“, gab Li zurück.
„Das mag schon sein, aber dieses Fleisch ist nicht zubereitet, wie es bekömmlich wäre!“
Die Lasten, die das getötete Kamel getragen hatte, wurden nun auf die anderen Tiere verteilt. Es handelte sich überwiegend um Ballen mit Seidenstoffen. Die bunten Gewebe waren sehr edel. Li hatte immer wieder einmal einen bewundernden Blick darauf geworfen und es war ihr schmerzhaft bewusst geworden, wie sehr sich ihr Leben inzwischen geändert hatte. Es erschien ihr wie die Erinnerung aus einem anderen Leben, dass sie es früher gewohnt gewesen war, Gewänder aus seidigen Stoffen zu tragen. Inzwischen hätte sie auf ein Gewand aus Seide gar keinen Wert mehr gelegt, denn für das entbehrungsreiche Leben in den endlosen Steppen und Halbwüsten, die sie inzwischen schon durchquert hatten, waren Gewänder aus diesem edlen Stoff alles andere als praktisch.
Nach endlos erscheinenden Tagen des Weiterwanderns erreichten sie schließlich einen Ort namens Yarkand, in dem die meisten Menschen Uigurisch zu sprechen schienen. Viele von ihnen waren anscheinend Christen.
Jedenfalls bemerkte Li das Kreuzeszeichen auf einigen Gebäuden. Und auch die Menschen, denen sie begegneten, trugen dieses Zeichen häufig auf ihrer Brust. In Gold die Reichen und Einflussreichen, die weniger Reichen hatten nur Kreuze aus Holz.
„Nestorianer“, meinte Bruder Anastasius. Und in seinem Tonfall schwang etwas Verachtung mit.
„Ich dachte, das wären auch Christen“, meinte Li etwas verwirrt.
„Es scheint das Schicksal unserer Kirche zu sein, sich immer und immer wieder zu spalten. Und obwohl wir den Frieden als das höchste Gut erachten, geraten wir anscheinend über nichts lieber in Streit als über den Glauben...“
In der Karawanserei übernachteten die drei Papiermacher und der Mönch bei den Kamelen. Babrak der Feilscher sprach eine ganze Weile mit einem persischen Basari aus der Stadt.
Li konnte nur einen Teil dessen verstehen, was die beiden zu besprechen hatten, aber es ging anscheinend um den Weg, den sie nehmen würden, um weiter nach Westen zu gelangen.
„Babrak wird uns schon wissen lassen, wenn er etwas erfährt, dass für unseren weiteren Weg von Bedeutung ist“, sagte Bruder Anastasius, als er bemerkte wie Li angestrengt lauschte.
„Es geht um den Kara Khan“, stellte sie fest.
„Natürlich. Es geht zur Zeit fast alles um den Schwarzen Herrscher in diesem Land.“
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Als die Karawane Yarkand verließ, war sie um mehrere Kamele reicher. Babrak hatte einige zusätzliche Tiere gekauft. Er wollte die Waren, die er mitführte, auf mehr Tiere verteilen.
„Es heißt, wir sollten Kaschgar meiden, weil es von Truppen vom Kara Khan beherrscht wird“, erklärte Babrak gegenüber seinen Männern. „Und da der Krieg gegen den Emir von Buchara führt, werden so hohe Zölle verlangt, dass man seine Waren angeblich gleich verschenken kann!“
„Bist du dir sicher, dass man dir das nicht nur erzählt hat, um zu verhindern, dass du auf dem Markt von Kaschgar jemandem Konkurrenz machst?“, glaubte einer der Männer.
Aber Babrak quittierte das nur mit einem finsteren Blick, der jeden Zweifel darüber ausschloss, dass er es sehr ernst meinte. „Die Quelle, von der ich das habe, ist vertrauenswürdig“, erklärte er. „Der Weg, den wir stattdessen nehmen, ist gebirgiger. Die Tiere brauchen mehr Kraft und sollten nicht so schwer tragen müssen... Und was die Gegend angeht, durch die wir jetzt kommen, so kenne ich mich dort aus wie kaum jemand sonst...“
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Der Weg, auf den Babrak sie führte, zog sich durch ein schroffes Bergland. Schneebedeckte, einschüchternde Gipfel ragten zu beiden Seiten auf und wurden von tiefen Schluchten und schattigen Tälern durchzogen. Es gab bewachsene Höhenweiden und sogar dunkle Hochwälder, die mit schroffen Felshängen abwechselten.
Die Luft war klar und kühl. Warm wurde es dort, wohin die Sonne reichte. Immerhin war es am Abend nicht mehr ganz so mühsam, Feuerholz zu suchen. Es gab genügend Sträucher und kleine Bäume.
Li war immer wieder erstaunt, wie die zweihöckrigen Trampeltiere auch schwere Steigungen und steile Hänge zu bewältigen vermochten, während die Pferde dabei häufig viel größere Mühe hatten.
Tage vergingen in diesem Labyrinth. Manchmal folgten sie Schluchten, die so schmal waren, dass sie den ganzen Tag über im Schatten lagen und kein Sonnenstrahl den Erdboden erreichte. An kleinen Wasserläufen machten sie Halt, die Schmelzwasser von den vergletscherten Höhen mit in die tiefer gelegenen Gebiete spülten – Wasser, das kalt und klar war und in den Stunden des frühen Abends und bei Sonnenaufgang geisterhafte Nebelschwaden aus den Tälern emporsteigen ließen.
Auf einer Hochweide begegneten sie einem Nomadenstamm, dem offenbar eine Ziegenherde gehörte.
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