„Du da!“
Li stand wie angewurzelt da und fühlte, wie ihr der Puls bis zum Hals schlug. Seit ihrer Gefangennahme hatte sie zugesehen, sich von Toruk fernzuhalten, denn sie hatte mitbekommen, wie gewalttätig er schon gegenüber seinen eigenen Frauen werden konnte – wie viel mehr hatte dann eine rechtlos Gefangene zu befürchten, die darüber hinaus noch dem verhassten Han-Volk angehörte, dessen Erfindungsgabe man zwar bewunderte, deren Herrschaftswillen man jedoch bis weit in die westlichen Steppen hinein ebenso fürchtete wie die Grausamkeit seiner Kaiser.
„Papiermacherin!“, rief er und stellte damit noch einmal unmissverständlich klar, wen er meinte. „Tritt vor!“
„Was willst du von meiner Tochter?“, mischte sich Wang ein, der ebenso wie Gao in ihrer Nähe stand.
„Du schweigst, alter Mann!“, gab Toruk schroff zurück. Dann winkte er mit einer energischen Bewegung.
Wang wechselte einen Blick mit seiner Tochter, der seine Sorge verriet. „Wir sind ihnen ausgeliefert, also tu was immer von dir verlangt wird“, murmelte er und benutzte dabei die Sprache des Han-Volkes, in der Hoffnung, dass Toruk seine Worte dadurch nicht so gut mitbekam, obwohl auch er zweifellos Grundkenntnisse darin hatte.
Li trat vor.
Die Kleider, mit denen man sie verschleppt hatte, waren längst zerschlissen – ein paar Fetzen, die nur noch dazu taugten, dass man Papierbrei daraus machte. Inzwischen trug sie die sackartigen, praktischen Gewänder der Uigurenfrauen – allerdings nur solche Stücke, die andere abgelegt hatten und die schon so oft geflickt waren, dass sie fast ausschließlich aus Flicken zu bestehen schien. Lumpen, gemessen an dem, was sie gewohnt war. Aber für das raue Leben in den Steppen und Gebirgen der westlichen Länder hatte diese Art, sich zu kleiden ihre Vorteile. Das Obergewand reichte bis zu den Knien und war unten durch die langjährige Beanspruchung ausgefranst. Darunter trug sie eine weite Hose und das alles hielt eine Hanfkordel einigermaßen zusammen.
Ein Stück ihres alten Gewandes diente ihr als Kopftuch, auch wenn es nur wenig gegen den schneidenden kalten Wind half, der immer wieder über das Land fegte.
Immerhin verbarg diese Kleidung ihre weiblichen Reize nicht stark genug, dass sie vor den Nachstellungen der Männer und dem Hass der Frauen im Lager völlig sicher sein konnte.
Toruk riss sein leicht gebogenes Schwert aus der Scheide. Er spießte damit den Kopf des Toten auf und wandte sich an Li.
„Du hast geschickte Hände, Papiermacherin.“
„So geschickt, wie es mein Handwerk erfordert“, erwiderte Li vorsichtig.
„Kannst du kochen?“
„Meine Kinder müssten gewiss nicht hungern – so sie schon bereits geboren wären!“
Li hielt den Blick gesenkt, beobachtete dabei aber gleichzeitig jede Bewegung ihres Gegenübers und jede Veränderung seiner Gesichtszüge. Wenn Toruk so war, wie er sich im Moment zeigte, dann war er zu allem fähig und vollkommen unberechenbar. Die Tanguten mussten ihm und seinen Männern übel mitgespielt und viele von Toruks Männern getötet haben. Was genau geschehen war, darüber konnte Li nur spekulieren. Aber es fügte sich eins zum anderen. Zu dem Trupp, der vor einigen Tagen aufgebrochen war, um sich mit ihnen zu treffen, hatten mehr als doppelt so viele Krieger gehört. Dass nur so wenige ins Lager zurückgekehrt waren, hatte Li nicht gleich darauf schließen lassen, dass die anderen wahrscheinlich einen grausamen Tod gefunden hatten, denn oft genug teilte sich ein solcher Reitertrupp bei der Rückkehr zum Lager in verschiedene Gruppen auf. Das geschah wohl schon deshalb, um eventuelle Verfolger zu verwirren. Aber diesmal war wohl die ganze Schar der Überlebenden gemeinsam zurückgekehrt. Blanke, unstillbare Wut leuchtete aus Toruks Augen.
Er schleuderte den Kopf des Steuereintreibers in Lis Richtung. Sie bewegte sich nicht. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt kam der Kopf auf den Boden und rollte ihr noch ein Stück entgegen, bis er schließlich eine Handbreit vor ihrem linken Fuß liegen blieb.
„Hier, das ist für dich!“, rief Toruk. „Ihr Han-Leute zerkleinert das Essen doch, bevor ihr es gart und esst es dann in kleinen Stücken, als währt ihr zahnlose Greise!“
„Man spart Brennstoff und verträgt es besser“, erwiderte Li. Am liebsten hätte sie ihm zornig entgegen geschleudert, dass ihr die Art, in der die Uiguren aßen, sehr den Tieren zu ähneln schien, aber sie konnte sich beherrschen. Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Kopf. Sie fühlte dessen angstvollen Blick auf sich gerichtet, aber sie wagte es nicht, sich zu ihm umzudrehen. Schon deswegen nicht, um ihn nicht zu gefährden, denn wer konnte schon ahnen, ob Toruk dies nicht zum Anlass für irgendeine sinnlose Grausamkeit nahm.
Anfangs hatte Li geglaubt, dass Toruk dabei eine gewisse Grenze einhalten würde. Schließlich mochte er ein Barbar sein, aber er war zweifellos auch ein Händler, der darauf achtete, dass seine Kriegsbeute gewinnbringend weiterverkauft wurde.
Aber wenn der Jähzorn ihn im Griff hatte, dann schien ihm das völlig gleichgültig zu ein. Er erinnerte dann an ein wütendes Kind, das ein eigene Spielzeug zerschlug. Nur dass Toruk unter Umständen einfach sein Schwert nahm, um jemandem den Kopf abzuschlagen – nur um zu zeigen, wer hier das Sagen hatte.
„Du wirst mit deinen zarten Händen das Fleisch von diesem Schädel kratzen und es so zerkleinern, wie ihr Han-Leute das mögt! Dann mischst du es in das Essen, das man euch gibt, Papiermacherin!“ Er wandte sich an die anderen. „Es soll jeder von euch daran erinnert werden, was mit ihm geschieht, wenn er oder die Seinen versuchen, Toruk hereinzulegen!“ Für ein paar Augenblicke wagte es niemand, auch nur heftig zu atmen. Die Strenge stand etwas abseits und sah dem Geschehen zu. Ein wenig schien selbst sie angesichts dessen zu schaudern, was Toruk von Li verlangt hatte.
Toruk drehte sich langsam wieder zu Li herum. „Na,los, worauf wartest du, Papiermacherin? Deine Leute haben Hunger!“
Li blickte auf. Eigentlich hatte man ihr beigebracht, dies nicht zu tun. Man starrte nicht direkt in das Gesicht eines anderen Menschen, das gebot einfach der Respekt und die Höflichkeit. Und wenn eine Frau dies tat, konnte es sogar als anzüglich angesehen werden. Aber in diesem Moment hatte all das, was man ihr in dieser Hinsicht beigebracht hatte, keine Bedeutung mehr. Sie begegnete dem bohrenden Blick Toruks und hielt ihm stand.
Toruk deutete mit der Spitze seines Schwertes auf den Schädel, um seine unmenschliche Forderung zu unterstreichen.
Li senkte nicht den Blick. „Du sprachst im Zorn – und der Zorn lässt dich vergessen, was dein Glaube von dir fordert!“
Er runzelte die Stirn. „Was redest du da? Du sollst einfach tun, was ich sage, oder dein Schädel rollt neben den dieses unglücklichen Hundesohns!“
„Du kannst tun, was immer dir beliebt. Es ist niemand da, der dich daran hindern könnte - aber ich werde nicht tun, was du von mir verlangst“, erklärte Li. Die Festigkeit, mit der sie diese Worte sprach, überraschte sie selbst am meisten. Aber in diesem Moment fühlte sie eine innere Stärke, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, ihr Leben war eigentlich zu Ende und es gab auch nichts, worauf sie noch hätte Rücksicht zu nehmen oder was ihr hätte Furcht einflößen können. In diesem Moment dachte sie an das, was die tibetischen Wandermönche verbreiteten, die auch nach Xi Xia gelangt waren. Die Lehre Buddhas, wonach man sich von allem Irdischen lösen sollte, um vom Leid erlöst zu werden. Sie hatte das nie wirklich verstanden, aber in diesem Moment glaubte sie, zu begreifen, was die Tibeter meinten.
Das Gesicht Toruks lief dunkelrot