„Doktor Mittler!“, meldete er sich reserviert. Dann: „Du, Evi?“
Die Kollegenköpfe reckten hoch.
Recht verblüfft starrte Dr. Mittler den Hörer an.
Im Hintergrund ulkte Dr. Simon-Stoll: „Der Schwerenöter in Aktion! Ein unverhoffter Genuss!“
Ringsum grinsende Zustimmung. Einschließlich Schwester Manka. Sogar Dr. Winter zeigte ein Lächeln.
Erbost winkte Dr. Mittler ab und gebot Ruhe. Er drückte den Hörer ans Ohr.
„Hermann?“, vergewisserte sich die Anruferin. Ihre Stimme klang klein und verzagt und schutzbedürftig.
„Ja, ich bin dran. Hallo, Evi! Das nenne ich eine angenehme Überraschung am Morgen. Lichtblicke sind rar. – Du sprichst so leise! Ist bei euch etwas passiert?“
Schweigen. Dann: „Ich … ich ... Hermann, ich bin so verzweifelt.“ Die Stimme wurde noch winziger und unscheinbarer. Er hörte, dass sie weinte. „Ich habe wahrscheinlich Krebs!“
„Du hast ...?“
Sagte er nicht gerade, dass Lichtblicke rar waren?
Ihr Schluchzen wurde stärker. „Nun mal mit der Ruhe, Evi-Mädchen! Was heißt wahrscheinlich? Kennst du die Diagnose?“
Sie antwortete nicht. Aber sie war noch dran, er hörte es.
„Wer behandelt dich?“, forschte er behutsam.
Nach einer ganzen Weile erst sagte sie undeutlich: „Die Symptome deuten darauf hin. Ich habe im Buch nachgesehen ...“
Er spürte, in welch großer seelischer Bedrängnis sie sich befand. Zugleich erkannte er die Gefahr, dass sie sich in die Angst hineinsteigerte.
„Also Selbstdiagnose. Und eine vorläufige dazu“, unterbrach er sie höflich, aber bestimmt. „Ich schlage vor, du lässt sie durch eine endgültige ersetzen. Bist du nicht bei Schabitz...? Scharnitz, meinetwegen! Lass dir einen Termin geben, geh hin, und du wirst sehen, dass alles gar nicht so trübsinnig ausschaut, wie man auf den ersten Blick glaubt.“
„Ich bin so verzweifelt, Hermann! Was soll ich machen?“
„Nicht die Nerven verlieren! Das ist die erste Grundregel.“
„Ich will nicht zu Doktor Scharnitz!“
Es war wohl zwecklos, ihr in diesem Stadium zu widersprechen oder ihr die Notwendigkeit eines sehr kurzfristigen Facharztbesuches vorzuhalten. Hier musste er mit aller Behutsamkeit vorgehen. Eva-Maria war physisch robust, machte einen geradezu unverwüstlichen Eindruck. Psychisch jedoch war sie überaus sensibel.
„Das hast du dir sicher reiflich überlegt, nehme ich an. Zu einer fachlichen Diagnose rate ich aber dringend. Schon wegen der Klarheit. Und es würde dir auch die verständliche Angst nehmen. Überwinde dich, und du wirst sehen, es ist gar nicht so schlimm.“
Er unterbrach seinen Zuspruch und sah die Kollegen mit etwas bedrückter Miene das Ärztezimmer verlassen. Man war hier sehr familiär, aber man beachtete die Form und wahrte die Intimität. Besonders die eines inhaltsschweren Telefongesprächs, wie aus Mittlers Worten und seiner Mimik herauszulesen war.
Er war den Kollegen dankbar für diese Rücksichtnahme.
„Nimm dir ein Herz und suche einen Spezialisten auf“, fuhr er fort. „Was sind das überhaupt für Symptome?“
Seine ruhige bestimmte Art zeigte Wirkung. Eva-Maria schnaubte sich die Nase. Weinerlich klang die Stimme aber immer noch.
„Vor zwei Wochen fing’s mit Unwohlsein an. Dann kam ein zunehmender Druck hinzu und bald danach ein ständiges Völlegefühl. Und immer rasende Schmerzen bis ins Kreuz.“
So typisch, wie sie ihm das klarzumachen suchte, waren die Symptome nicht. Jedenfalls nicht auf ihren Verdacht zutreffend. Eher schon ...
„Was hältst du von einem Schwangerschaftstest, Mädchen?“, versuchte er zu scherzen.
Seine Worte bewirkten Verblüffung, er hörte es an Evis stoßweise Atem. „Ganz ausgeschlossen, Hermann. Ich weiß noch sehr gut, wie es bei Tina war. Jetzt ist es völlig anders. Vorgestern hatte ich dann auch den irrsinnigen Stechschmerz im Unterleib. Die Anfälle kommen immer kürzer, vergangene Nacht zweimal. Vorhin auch wieder. Ich habe es vor Walter bisher verheimlicht, aber vorhin ging es nicht mehr.“
Dr. Mittler nagte an der Unterlippe. Der Stechschmerz fügte sich nicht ins Bild einer beginnenden Schwangerschaft. Er war schon wieder mehr ein Indiz für eine Ovarialkomplikation.
Eva-Maria war eine überaus vernünftige Frau, Übertreibungen irgendwelcher Art lagen ihr nicht.
„Das hört sich nicht gerade berückend an, ist andererseits aber noch lange kein Grund, auf der Stelle den Kopf zu verlieren. Wann warst du bei der letzten Vorsorgeuntersuchung?“
„Zwei Jahre nach Tinas Geburt.“
Er holte tief Atem, und er wünschte, dass sie es hörte und den darin enthaltenen Vorwurf. „Vor sechs Jahren also. Ziemlich unvernünftig, nur hilft uns das im Augenblick nicht weiter. Was hat dich auf den Gedanken gebracht, du könntest Krebs haben? Darauf bist du doch nicht einfach so gekommen.“
„Der blutige Ausfluss.“ Er merkte, dass sie sich genierte.
Fieberhaft überlegte er. Sie war sechsunddreißig, zwei Jahre älter als er. Für die Wechseljahre eigentlich viel zu jung. Zu Beginn des Klimakteriums traten gelegentlich unregelmäßige Blutungen auf.
„Seit wann beobachtest du das?“
„Seit der Stechschmerz auftritt – nein, schon zwei Tage eher. Das sind doch typische Anzeichen, nicht wahr? Du brauchst nichts zu beschönigen.“
„Anzeichen wofür, bitte?“
„Ovarialkarzinom!“
Sie warf es ihm an den Kopf wie ein letztinstanzliches Urteil, dem jede Revisionmöglichkeit versagt ist.
Er schluckte. „Was glaubst du, wie schwierig es selbst für einen Fachmann ist, eine solche Diagnose zu stellen ohne feingewebliche Untersuchung. Ich widerspreche dir darum ganz energisch. Nicht nur als Freund, sondern vor allem als Arzt. Und ich rate dir dringend zu einem Besuch beim Frauenarzt. Rede mit Walter, er wird deine Situation verstehen.“
„Ich bin mir nicht so sicher.“
„Seit wann habt ihr Geheimnisse voreinander? Du bildest dir da etwas ein. Und schlag dir den Gedanken an die Richtigkeit deiner Diagnose aus dem Kopf. Geh zum Arzt. Je eher dein Verdacht ausgeräumt ist, desto besser für dich.“
„Ich dachte, ich könnte zu euch kommen. Du hast mal von deinem Chef erzählt, und eine Bekannte war vor einem halben Jahr bei ihm in Behandlung.“
„Winter?“
„Ja. Ich will nicht zu Scharnitz. Und dann das Gerede, du kennst doch die Leute.“
„Wenn es um meine Gesundheit geht, wäre mir das herzlich gleichgültig. Ich werde mich bei Winter für einen Termin verwenden. Mir wäre aber wohler, du würdest dich mit Walter besprechen.“
„Er ruft nachher an. Er weiß, dass ich mit dir spreche, ich sagte es ihm. Um elf geht er in eine Konferenz von unbestimmter Dauer, und er will zuvor hören, was du mir rätst.“
„Spricht doch sehr für sein Verständnis. Ich höre nach, wie es mit einem Termin steht. Kann ich dich zu Hause erreichen?“
„Den ganzen Tag, Hermann.“
„Dann würde ich sagen, bis gleich. Dank dir für den Anruf, Evi. Und lass den Kopf nicht hängen. Wir biegen das schon irgendwie hin.“ Er bemühte sich, seine Stimme heiter klingen zu lassen.
„Ich