Er reichte nicht. Etwa zwanzig Kilometer vor der Küstenlinie Kretas begann an Tag Drei ihrer Überfahrt der Außenbordmotor zu stottern, ging schließlich ganz aus. Man vernahm nur noch das eintönige Glucksen der Wellen.
»Und was machen wir nun?«
»Solaras fuhr mit der Zunge über seine rauen, aufgesprungenen Lippen. »Rudern, was sonst? Wir müssen uns dabei abwechseln. Hoffentlich treibt uns die Strömung in die richtige Richtung, sonst wird es haarig.«
Wie zum Hohn lag das Mittelmeer spiegelglatt im strahlenden Sonnenschein. Innerhalb von zwei Stunden bildeten sich brennende Blasen auf Solaras‘ Handflächen, doch er ruderte unverdrossen weiter, stets das Navigationsgerät des Gleiters im Blick behaltend. Die Entfernung zur Insel Kreta schien sich kaum zu verringern.
»Ich habe Durst! Lange halte ich diese Strapazen bestimmt nicht mehr durch. Ich bin schließlich erheblich älter als du«, jammerte Kalmes, nachdem auch sie eine Stunde lang an den Rudern gesessen war. Längst haderte Solaras bitter mit seiner Entscheidung, nicht die Landroute über die türkische Grenze genommen zu haben. Er übernahm die Paddel, fand jedoch kaum mehr die notwendige Kraft, sie zu benutzen. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel.
Gegen 15 Uhr tauchte am Horizont ein kleiner weißer Punkt auf. Kalmes saß plötzlich kerzengerade im Boot.
»Da, ein Schiff! Wir müssen uns irgendwie bemerkbar machen!«, krächzte sie und wedelte mit den Armen. Doch der weiße Punkt verschwand hinter dem Horizont. Schluchzend sank sie in ihre orangerote Schwimmweste, barg das Gesicht in den Händen. Die Hoffnung schwand. Das Ufer wollte einfach nicht in Sicht kommen. Sie waren noch mehr als zwölf Kilometer vom Strand entfernt.
Als die Sonne in einem spektakulären Farbenspiel am Horizont versank, riss sie die Hoffnung der Tiberianer gleich mit in den Abgrund der Verzweiflung. Mittlerweile hatten beide zu rudern aufgehört, sie konnten vor Erschöpfung einfach nicht mehr. Nebeneinander lagen sie im Schlauchboot und blickten starr in den dunkler werdenden Himmel, während es orientierungslos auf den Wellen dümpelte.
»Ich fühle mich so hilflos. Hättest du geglaubt, dass es auf eine solch jämmerliche Weise mit uns zu Ende geht?«, flüsterte Kalmes und schmiegte ihren Kopf an Solaras‘ Schulter.
»Nein. Ich habe die Gefahr total unterschätzt, das werde ich mir zeitlebens nicht verzeihen können. Wobei dieses zeitlebens wohl nicht mehr sehr lange dauern wird. Ohne Süßwasser sind wir hier draußen verloren.«
Auf einmal vernahmen sie ein brummendes Geräusch, das näher zu kommen schien. Ein Boot der griechischen Küstenwache! Von neuer Kraft durchströmt, winkten Kalmes und Solaras mit den Paddeln, schwenkten dazu die Schwimmwesten. Mit zitternden Fingern setzte Kalmes ihr durchnässtes, salzverkrustetes Kopftuch auf und warf die israelischen Pässe über Bord.
Routiniert nahm die Crew der Limeniko Soma die Flüchtlinge an Bord. Die Helfer kannten den Anblick durchnässter, dehydrierter Menschen nur zu gut. In Wolldecken gehüllt und mit Wasserflaschen versehen, sahen die traumatisierten Außerirdischen überglücklich die hell erleuchtete kretische Küstenlinie auf sich zukommen.
Das Boot steuerte den Badeort Plakias an. Dort wurden sie zu einem älteren Gebäude geleitet, das, der verblichenen Aufschrift nach, früher wohl als Lager für Oliven gedient hatte.
Ein Übersetzer nahte. Jetzt bloß keinen Fehler machen! Solaras kratzte seine arabischen Sprachkenntnisse zusam
men und bestätigte einsilbig, dass sie ursprünglich aus der umkämpften Stadt ArRaqqa in Syrien kämen, die Pässe auf der Bootsfahrt verloren hätten und weiter nach Deutschland zu reisen gedächten. Er gebrauchte das Zauberwort Asyl, wie Levi und das Internet es ihm angeraten hatten. Kalmes richtete ihren Blick zu Boden und sprach keinen Ton. Beide atmeten auf, als sie Nahrung und ein Feldbett zugewiesen bekamen.
*
Nach drei Tagen Aufenthalt in Plakias brachte man die mutmaßlichen Flüchtlinge zum Küstenort Gouves im Nordosten der Insel. Dort hatte die griechische Regierung erst kürzlich einen sogenannten Hotspot zur Registrierung von Bootsflüchtlingen eingerichtet. Von dort ging es mit der Fähre weiter zum Festland, wo Solaras und Kalmes vorläufig in einer Flüchtlingsunterkunft am Hafen von Piräus strandeten. Sie hielten sich vorsichtshalber so gut wie möglich von ihren Leidensgenossen fern, vermieden direkten Kontakt. Solaras sprach nur das Nötigste und ausschließlich, soweit sie von Offiziellen behelligt wurden. Das fiel nicht negativ auf, denn viele der Flüchtlinge waren traumatisiert und wortkarg. Drei Wochen hielten sie in Piräus durch, dann wurde ihnen die Situation zwischen Abfällen, quäkenden Kindern und den vielen fremden Menschen unerträglich. Es gab nachts keinerlei Privatsphäre und auch keine Ruhe, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Infektionskrankheiten machten die Runde.
Solaras hielt gleichwohl Augen und Ohren offen, interessierte sich für das, was in seiner Umgebung vor sich ging. So erfuhr er, dass einige Lagerinsassen sehr konkrete Pläne hegten, mithilfe von Schleppern nach Deutschland weiterzureisen. Allerdings wollten diese Leute für ihre illegale Tätigkeit fürstlich bezahlt werden, und sie besaßen keinerlei Geldmittel mehr. Eine kleine Hoffnung blieb dennoch, und die zielte auf die menschliche Neugierde und Sensationslust ab.
Solaras beobachtete aus sicherem Abstand, wie sich eine fünfköpfige syrische Familie mit zwei ketterauchenden Männern traf. Man diskutierte und gestikulierte wild. Am Ende erfolgte offensichtlich eine verdeckte Geldübergabe, denn die beiden Männer entfernten sich grinsend.
Der Tiberianer atmete tief durch, folgte den zwielichtigen Typen und sprach sie mutig an. »Ich möchte mit meiner Frau so bald wie möglich nach Deutschland. Können Sie mir helfen?«
Einer von ihnen sprach leidlich Arabisch. »Nun, das kommt ganz darauf an. Unsere Leistungen gibt es selbstverständlich nicht umsonst. Zehntausend Euro pro Person, im Voraus und in bar. Dafür werdet ihr aber exklusiv bis hinter die deutsche Grenze befördert. Soll heißen, nicht im überfüllten Laster mit hundert anderen Seelen.«
Solaras schluckte. »Ich … das kann ich mir unmöglich leisten! Es muss eine andere Möglichkeit geben. Ich könnte eine Weile für Sie arbeiten oder Ihnen einen Gegenstand anbieten, den Sie auf der Welt nirgendwo sonst bekommen …!«
»Was? Du machst wohl Witze! Ich will Bares sehen, sonst kannst du in Piräus meinetwegen bis in alle Ewigkeit verrotten! Es wollen noch genügend andere Leute unbedingt nach Deutschland gebracht werden«, knurrte der Kerl. Seine dunkelbraunen Augen hatten einen stahlharten Ausdruck angenommen. Er drehte sich zu seinem Kompagnon um, sprach in abfälligem Ton mit ihm. Dieser schüttelte unwillig den im Vergleich zum Körper riesigen Kopf, äußerte irgendetwas auf Griechisch.
»Was für einen Gegenstand, und wieso sollte der einmalig auf der Welt sein? Hast du etwa einen Riesendiamanten geklaut, oder was?«, fragte er spöttisch.
Solaras hatte nur die Hälfte verstanden. Die Sprachbarriere machte ihm schwer zu schaffen.
»Das Gerät ist schlecht zu beschreiben. Du musst es gesehen haben. Wir treffen uns morgen um dieselbe Zeit wieder hier, dann zeige ich dir in einer unbelebten Ecke das Tauschobjekt. Es ist unbezahlbar. Einverstanden?«
Der Mann zögerte kurz, willigte dann aber grunzend ein.
Am folgenden Nachmittag standen die beiden Männer bereits am Treffpunkt, als Solaras im Laufschritt eintraf. Unter dem Arm trug er einen grünen Stoffbeutel mit Inhalt. Mit skeptischen Blicken beobachteten die in Hemd, Hose und Pullunder mit Rautenmuster gekleideten Schleuser, wie der angebliche Flüchtling einen halbrunden Gegenstand daraus hervorzog.
»Was soll das denn sein? Eine hässliche Schneekugel, oder was?«
»Das ist ein außerirdisches Navigationsgerät, es stammt von einem zweitausenddreihundert Lichtjahre entfernten Planeten. Und hierbei handelt es sich um eine Energiezelle. Sie ist klein, speichert aber so viel Energie, dass du eine Glühlampe tausend Jahre lang ununterbrochen brennen lassen könntest.«