Meine Großmutter, Mutters Mutter, wohnte ein paar Häuser von uns entfernt, und ich durfte, so etwa mit vier Jahren, morgens allein zur »Omama« gehen, da ich den Fahrdamm nicht zu überschreiten hatte. Dort waren auch Portierskinder, von denen ein kleines Mädchen eine Nähmaschine mit Handbetrieb hatte – man stelle sich vor, welch ein Monstrum das 1901 oder 1902 gewesen sein mag. Da Großmutter ja nun, damals schon weit über siebzig Jahre alt, nicht allzu viel mit ihrem Enkelsohn anzufangen wusste, war es verständlich, dass die Portierskinder mit mir spielten. Der halbblöde Junge aus unserem Haus schleppte mich aber eines Tages mit sich unter den »Bülow-Bogen«, die Kreuzung der Bülow- und Potsdamerstraße, wo für damalige Verhältnisse ein lebensgefährlicher Wagen- und Straßenbahnverkehr herrschte, um mitten auf der Straße, zwischen den Wagen stehend, die Straßenbahnschaffner um leere Billetblocks anzubetteln: »Ha’m se ’n leeren Block?« Das Abenteuer endete damit, dass Großmutter und Eltern die Polizei alarmierten und ich samt meinem »Führer« heil ins Elternhaus geschafft wurde. Die Kontrolle wurde verschärft, und es blieb nur der Weg zur Großmutter am Morgen, wohin ich jeden Tag marschierte, mit Stentorstimme den Schlager des Tages singend: Hab’n se nich den kleinen Cohn gesehn?
Ich wurde sieben Jahre und sollte in die Schule, das »Hohenzollern-Gymnasium[2]«, hatte also nach einem Jahr Privatunterricht die »Reife« für die damalige zweite Vorschulklasse. Von dieser Schule weiß ich nur, dass sie ein großes Gebäude aus rotem Backstein war und dass ich dort wenig reüssierte. Denn aus jener Zeit stammt meine Erinnerung des Hinter- und Vordereingangs, den ich im Anfang meiner Erzählung als bezeichnend für meine wissenschaftlichen Fortschritte erwähnte. Mein Vater, der herzensgütigste Mensch meines ganzen Lebens, war ein jähzorniger Mann. Er sah in seinem Sohn sein Idol, wünschte ihn vollkommen, musterhaft und untadelig. Ach, was wurde der arme Mann enttäuscht! Erst Jahrzehnte später (1936), als ich den jähen Tod meines Vaters durch Telegramm »Vater sanft entschlafen« in Brasilien erfuhr, lernte ich, was er war, wer er war und wie er war. Ich weinte wohl die echtesten und bittersten Tränen meines Lebens, und niemals wieder war der Begriff des »Mea culpa, mea maxima culpa« so lebendig in mir wie damals.
Doch ich greife wieder vor, die Gedanken tragen mich fort, und ich muss sie zügeln, um bei der Sache zu bleiben. Vater schlug mich oft in seiner Heftigkeit, oft wegen wenig belangvoller Dinge. Er schlug mich nicht ins Gesicht, verlangte von mir, dass ich in mein Zimmer ginge, um die Hosen auszuziehen. Dann kam er und schlug mich mit der Rute und später mit einem Rohrstock (die Rute hing irgendwo an der Wand in meinem Zimmer, sie hatte ein rotes Band, welches die Reiser zusammenhielt) kräftig auf meine Sitzfläche. Es liegt mir ferne, durch diese Erzählung das Andenken meines Vaters herabzusetzen, denn die körperliche Züchtigung war ja zu jener Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches, sondern gang und gäbe in Elternhaus und Schule (Erbe preußischer »Zucht«, durch die sich der sogenannte »Alte Fritz« so unsterblich gemacht hat), doch muss ich dieses Faktum besonders eingehend behandeln, denn lange Jahre hindurch währte diese törichte Form der Erziehung in mein Leben, deren Folgen für mich und für meine Eltern katastrophal werden sollten. Ein selbstquälerischer Zug meines Wesens und eine gewisse Form von Sado-Masochismus hat ohne Zweifel seine Wurzeln im Nährboden dieser für unsere heutigen Begriffe sinnlosen Form der Erziehung, die mir bei einem Vater hoher Kultur und echter Herzensgüte einfach unfassbar ist.
Andererseits wurde ich ebenso ohne vernünftiges Maß verwöhnt. Jedoch – ich kann das heute rückschauend wohl beurteilen – in einer Form, die ich als Kind, namentlich etwas später, als ich ein Urteil über die Dinge im Allgemeinen bekam, einfach nicht verstehen konnte, weil meine Eltern ihre Wohltaten an mir, ihre Güte und Liebe von ihrem eigenen und nicht von meinem Kinderstandpunkt aus betrachteten, und oft unglücklich waren oder mich gar »undankbar« nannten, weil ich das mir Gebotene nicht gebührend schätzte oder mich sogar dagegen zur Wehr setzte. Mir ist eine typische Geschichte in Erinnerung, die klar und eindeutig diese permanent durch meine Jugend gehende Situation aufzeigt. Ich mag wohl sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, da reisten meine Eltern mit mir in die Schweiz und versprachen sich davon, dass der Anblick der Viertausender-Gipfel mit dem ewigen Schnee auf mich einen gewaltigen Eindruck machen müsste. Vorauszuschicken ist, dass die damalige »Mode-Ernährung« (kein rohes Obst, sondern alles gekocht und ähnlicher Unsinn) unter anderm auch den Genuss von Käse als zu schwer für den Kindermagen betrachtete. Ich erinnere mich, dass wir in Bern ankamen und in einem der schönen Schweizer Hotels abstiegen (das Kindermädchen war natürlich mit), und dass meine Mutter mir die weißen im Abendsonnenglanz ruhenden Schneegipfel der Berner Alpen, besonders die Jungfrau, die von unserm Hotel aus prächtig zu sehen war, zeigte. Wir gingen zur Table d’hôte, um das Diner einzunehmen, welches selbstverständlich mit der köstlichen »Beurre et fromage«-Platte schloss. Und es geschah das Wunder, dass meine Eltern das große Risiko auf sich nahmen, mir etwas Gervais-Käse zu gestatten. Kurzum – nachdem ich ins Bett gebracht worden war, kam meine Mutter zum Gutenacht-Kuss und zum Beten, und ich brach schließlich in den Ruf aus: »Ach Mutti, ich bin ja so glücklich!« Meine Mutter, gerührt über den gewaltigen Eindruck, den die herrliche Landschaft auf das zarte Kindergemüt gemacht hatte, antwortete denn auch natürlich: »Ja, mein Jungchen, es ist wirklich ein Erlebnis, zum ersten Mal die Schneeberge, die Jungfrau, gesehen zu haben.« Aber mein damals noch ehrliches Kinderherz enttäuschte sie arg, denn ich schüttelte den Kopf: »Nein nicht deswegen, Mutti, nein, weil ich Käse bekommen habe!«
Diese kleine lustige Episode war bezeichnend für die Art, wie man mich behandelte, ich könnte zahllose ähnliche Fälle meiner Kinderjahre aufzählen. Die Deduktion würde stets die gleiche bleiben.
Gleichermaßen bemühte man sich, mir eine Sonderstellung zu schaffen. Außer den erwähnten kennt meine frühe Kindheit keine Gefährten gleichen Alters. Ich wuchs auf zwischen – im Verhältnis zu meinen Jahren – uralten Leuten, glaube aber nicht, dass ich ein typisch altkluges Kind war. Das einzig Schöne, dessen ich mich erinnere, waren meine Krankheiten, Kinderkrankheiten, wie sie alle Kinder haben, die damals, da es noch keine modernen pharmazeutischen Mittel gab, meist in üblicher altväterischer Weise mit Prießnitzumschlägen, kalten und warmen Wickeln, heißer Milch mit Honig, »Emser Kränchen« und ähnlichem behandelt wurden. Eine Mandel- und Nasenwucherung-Operation bleibt mir eine blutig-grausige Erinnerung, so sehr, dass ich mich des Namens des Arztes, eines Dr. Schoetz, noch erinnere, ebenso wie an die ganze abscheuliche Prozedur. Solche Krankheiten aber sind mir gewärtig, weil dies die eigentlich einzige Zeit war, während der meine Mutter mir gehörte. Sie saß dann stundenlang an meinem Bett und las mir vor. Sie war eine bewundernswerte Leserin. Ihre Stimme und Art machten die Figuren der Märchen und Sagen unsterblich lebendig in mir. Die Märchen von Bechstein und Andersen, die »Träumereien