In einiger Entfernung, kaum noch deutlich wahrzunehmen, bewegte sich das Beiboot der „Pax et Justitia“. Es entfernte sich vom Schauplatz des Gefechts. Sechs oder sieben Gestalten zählte Don Juan an Bord, aber er vermochte nicht zu sagen, ob auch der Kapitän Luis de Segovia unter ihnen war.
Die Engländer behelligten das Boot nicht. Auch das sprach für das faire Verhalten des Seewolfes. Zur Hölle, verstieß er denn nie gegen die Gesetze der See? Beging er nie einen Fehler? Das konnte nicht sein.
Noch eine Weile beobachtete Don Juan das Beiboot, das von seinen Insassen eiligst nach Süden gepullt wurde. Im Süden – so wußte der einsame Mann auf dem Lukendeckel – lag die Küstenlinie der Islas de Camagüey, die der eigentlichen kubanischen Küste vorgelagert waren.
Sollte auch er sich dorthin wenden? Aber wie? Er hatte keinen Bootsriemen, kein Hilfsmittel, um sich vorwärts zu bewegen.
Er blickte sich nach allen Seiten um und entdeckte eine kleine Insel – Lobos Cay – etwa nordöstlich von seinem derzeitigen Standort. Hoffnung stieg in ihm auf. Wenn es ihm gelang, diese Insel zu erreichen, war er auch vor den Haien sicher, die zweifellos im Verlauf der nächsten Stunden erscheinen würden.
Er sah sich nach einem Hilfswerkzeug um und entdeckte einige Planken und Plankenteile, die nicht weit entfernt von ihm im Wasser trieben. Sofort richtete er sich wieder mit dem Oberkörper auf, stützte sich ab und versuchte, wenigstens einen Plankenrest zu sich heranzuziehen.
Es mißlang – und fast glitt er ins Wasser ab. Er fluchte leise vor sich hin. Eine Strömung schien den Lukendeckel nach Süden zu entführen, fort aus der Reichweite der treibenden Planken.
Jetzt legte sich Don Juan auf den Bauch und begann, mit den Händen zu paddeln. Es war eine mühsame Sache, aber er schaffte es. Bald hatte er seinen Untersatz neben eine Planke getrieben und konnte sie aus dem Wasser ziehen.
Er setzte sich auf und drehte und wendete das Brett zwischen den Händen. Viel war von der „Pax et Justitia“ nicht übriggeblieben – und es war seine Schuld, daß sich alles so entwickelt hatte. Luis de Segovia hatte ihn vor dem Unternehmen und der direkten Auseinandersetzung mit den englischen Korsaren gewarnt. Hätte er, der Jüngere, dem erfahrenen Mahn nicht mehr Gehör schenken müssen?
Es war zu spät, sich deswegen mit Vorwürfen zu plagen. Don Juan setzte eine grimmige, entschlossene Miene auf und begann, mit der Planke zu paddeln – auf Lobos Cay zu.
Er verspürte wieder starke Schmerzen, aber sie waren zu ertragen. Durch eiserne Selbstkontrolle und Beherrschung hielt er sich aufrecht und versuchte, nicht mehr an die Niederlage zu denken. Sie war vollkommen und hätte schlimmer nicht ausfallen können.
Aber es war zu verlockend gewesen, den gesuchten und so überraschend heransegelnden Gegner anzugreifen und zur Aufgabe zu zwingen. Die Suche nach dem Schlupfwinkel wäre Don Juan erspart geblieben. Aber es hatte nicht sein sollen, und jetzt bestand nicht mehr die geringste Chance, den Engländer zu überrumpeln oder in seinem Versteck zu stellen.
Denn Cariba, der Kreole, war zweifellos mit der Dreimastkaravelle gesunken. Er war ja zuletzt wieder in die Vorpiek gesperrt worden und hatte sich aus dem Raum nicht befreien können. Nicht aus eigener Kraft, soviel stand fest, und von der Mannschaft hatte ihm bestimmt keiner geholfen, weder einer der Seesoldaten noch einer der Decksleute. Cariba war also jämmerlich ertrunken.
Somit war auch die bereits so aussichtsreiche Spur abgebrochen, die ihn, Don Juan, zu dem Schlupfwinkel der englischen Korsaren hatte führen sollen. Angeblich hatten sie dort, irgendwo auf den Turk- oder Caicos-Inseln, ihr Versteck.
Don Juan hatte keinen Grund, an Caribas vagen Hinweisen zu zweifeln. Nur hatte der Kreole sein letztes Wissen, die präzise Lage der Insel, nicht preisgegeben. Er hatte es mit auf den Grund der See genommen.
Don Juan de Alcazar war sich darüber klar, daß er auch weiterhin eine Menge Glück brauchte, um überhaupt zu überleben. Denn zur Zeit war er nichts weiter als ein Schiffbrüchiger auf einem fragwürdigen Untersatz, der von Seewasser überspült wurde.
Ein Plan reifte in seinem Geist heran. Auf Lobos Cay konnte er den Lukendeckel mit einigem Geschick zum Floß erweitern. Er brauchte ihn nur mit Lianensträngen auf zwei oder drei entsprechend zugeschnittene Baumstämme zu binden. Die Werkzeuge dazu hatte er – seinen Degen und das Messer im Stiefelschaft.
Mit einem solchen Gefährt mußte es möglich sein, zur Küste von Kuba zu gelangen. Seine Zuversicht wuchs. Er setzte alles in ein Gelingen des Unternehmens, Willenskraft und körperliche Energie.
Allmählich rückte das Eiland näher. Im Sonnenlicht vermochte Don Juan nähere Einzelheiten zu erkennen. Aha, dachte er, da wachsen Kokospalmen. Damit war vorerst auch das Versorgungsproblem gelöst. Vor allem brauchte er keinen Durst zu leiden.
Wieder fiel ihm der Mann ein, den er auf Anweisung der Krone hin zur Strecke bringen sollte. Philip Hasard Killigrew – er ging ihm nicht aus dem Kopf! Zum ersten Male hatte er ihn lebend vor sich gesehen – durchs Spektiv, kurz bevor die erste Breitseite zur „Pax et Justitia“ herübergedonnert war. Killigrew – verdammt, das war ein Gegner!
Gern hätte sich Don Juan gewünscht, in der Person dieses schwarzhaarigen Engländers die Bestie zu entdecken, den Blutsäufer und reißenden, mörderischen Wolf, als der er in Spanien und auch anderswo dargestellt wurde. El Lobo del Mar – der Töter, der Hetzer, der Feind aller spanischen Galeonen. Ein Teufel in Menschengestalt – oder?
Nein. Nichts davon hatte sich in dem scharfgeschnittenen männlichen Gesicht gezeigt, gar nichts. Aber eine kühne Verwegenheit war herauszulesen gewesen.
Ich muß sachlich bleiben, dachte Don Juan. Was war richtig und was falsch?
Richtig war mit Sicherheit, daß Killigrew auch weiterhin Spaniens grimmigster Feind blieb – falsch hingegen, ihn zu menschlich zu zeichnen und daraus Verständnis für ihn abzuleiten. Don Juan preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Er mußte aufpassen, daß er seinen Auftrag nicht zu persönlich nahm. Das konnte ein großer Fehler sein.
Aber da war noch etwas – die verblüffende Ähnlichkeit, die zwischen Killigrew und Arne von Manteuffel, dem deutschen Kaufherrn in Havanna, bestand. Es war wirklich merkwürdig, wie die Schöpfung zwei einander so ähnliche Männer hervorbringen konnte. War es ein Zufall oder eine Laune der Natur? Wie sollte man es nennen? Hier stand der englische Korsar, der spanische Schiffe überfiel, dort der honorige und auch kühne Deutsche, der für Don Juan schon fast so etwas wie ein guter Freund geworden war.
Arne von Manteuffel und der Seewolf kannten sich nicht, wie Arne ihm glaubhaft versichert hatte. Sie waren einander nie begegnet. Eine Verwandtschaft zwischen ihnen war auszuschließen. Und auch sonst hatten sie nichts miteinander gemeinsam. Im übrigen hatte der Deutsche mit den Engländern absolut nichts im Sinn, denn sein Land und sein Handelshaus in Kolberg nahmen eine neutrale Position ein und hatten im Prinzip nur das Geschäft im Sinn.
Don Juan paddelte, und in seinem lädierten Kopf kreisten unaufhörlich die Gedanken. Jäh wurden sie jedoch unterbrochen – durch einen Stoß, der den Lukendeckel traf.
Der Stoß erfolgte schräg von hinten und erschütterte den Lukendeckel. Er schleuderte Don Juan fast ins Wasser. Er duckte sich unwillkürlich, riß die Planke zu sich heran, ließ sie auf den Deckel fallen und hielt sich mit beiden Händen fest. Nur so verhinderte er, daß er das Gleichgewicht verlor und ins Wasser kippte.
Ein langgestreckter, geschmeidiger Leib schoß pfeilschnell an ihm vorbei, tauchte weg und schnellte herum. Don Juan entging nicht die dreieckige Rückenflosse. Er wußte sofort, mit welcher Art von Gegner er es zu tun hatte.
Ein Hai! Grau, stumm, unheimlich näherte er sich dem Mann auf dem wackligen Untersatz. Plötzlich erhielt er Gesellschaft. Ein zweiter Hai tauchte aus den Tiefen der Fluten auf und glitt ebenfalls auf Don Juan zu.
Don Juan riß den Degen aus der Scheide. Er kniete mit breitgespreizten Oberschenkeln auf dem Lukendeckel, um sein Gewicht so gut wie möglich zu verteilen. Er mußte jetzt kämpfen. Die Haie waren gefährlich und gewitzt zugleich, sie Würden versuchen, ihn