Hasard plante, in nördlicher Richtung zu wandern und so auf den Strand der Lagune zu stoßen, wo Masots Leute ihre Lagerfeuer entfacht hatten. Es sollte ein Überraschungsangriff werden, kurz, hart, kompromißlos, mit dem Ziel, Zegú und Thomas Federmann herauszuhauen.
Masot mußte inzwischen wohl begriffen haben, daß es ein ausgesprochener Fehler gewesen war, das Lager am Strand einzurichten. Er hätte seine Bande lieber vollzählig an Bord der „Saint Vincent“ belassen sollen, dann wäre den zwanzig Geiseln die Flucht garantiert nicht geglückt.
Ehe Masot veranlassen konnte, daß seine Mannschaft auf die Galeone übersetzte, wollte Hasard seinen Überfall durchgeführt haben.
Ben Brighton sollte zur selben Zeit seinen Beitrag zu dem Unternehmen leisten – es hing viel davon ab, daß er die Passage fand und sich an die „Saint Vincent“ herantasten konnte.
Hasard hatte seine Gruppe ungefähr vierhundert bis fünfhundert Yards tief in den Inseldschungel geführt, da vernahm er plötzlich einen Laut schräg vor sich und blieb abrupt stehen. Durch eine Geste bedeutete er seinen Gefährten, sich gleichfalls still zu verhalten.
Er hatte sich nicht getäuscht – nah vor ihnen raschelte es im dichten Unterholz, und jemand schien mit einemmal in Todesangst zu keuchen. Der Seewolf konnte in der Finsternis nicht die geringste Kleinigkeit vor sich erkennen, im übrigen hätten auch die schweren, Feuchtigkeit ausschwitzenden Blätter des Gestrüpps seine Sicht behindert, aber er war sicher, daß dort vorn ein Kampf stattfand.
Geduckt arbeitete er sich weiter vor, verzichtete jetzt aber darauf, den Cutlass zu benutzen. Er wollte keine unnötigen Geräusche hervorrufen, kroch nur noch flach auf dem modrig riechenden Untergrund entlang und teilte mit den Händen die Zweige und Blätter.
Dann hatte er den Platz erreicht, an dem der Kampf stattfand.
Ein hagerer Mann mit nacktem Oberkörper lag auf dem Rücken, und über ihm kniete ein zweiter Mann in Siegerpose, soviel konnte der Seewolf in der Dunkelheit gerade erkennen. Als nächstes hatte er den Eindruck, daß der unten liegende, schwer atmende, total erschöpft wirkende Mann Thomas Federmann, der Deutsche, war, und er brauchte keine wertvolle Zeit mehr zu vergeuden, um sich endgültig Gewißheit darüber zu verschaffen.
„Fahr zur Hölle“, sagte der Besiegte nämlich – auf deutsch.
Ein dritter Kerl trat soeben hinzu. Er hielt eine Muskete in den Fäusten. Ihrer abenteuerlichen Kostümierung nach konnten die beiden Bezwinger des Deutschen nur Freibeuter sein. Die Situation war klar genug – Thomas war seinen Wächtern entflohen, aber jetzt hatten sie ihn wieder gefaßt.
Hasard schwang hoch, hechtete mit einem panthergleichen Satz auf den über Thomas Knienden zu und riß ihn mit sich von dem Deutschen fort.
Der andere Pirat wollte eingreifen, aber Siri-Tong, Carberry und Ferris Tukker sprangen wie die Teufel aus dem Dickicht und warfen sich gegen ihn, ehe er schießen oder schreien oder seinen Säbel zücken konnte.
Hasard wälzte sich mit dem ersten Kerl auf dem Boden. Es war Saint Cyr, mit dem er kämpfte, aber das sollte er erst später erfahren. Saint Cyr entwikkelte beachtliche Kräfte und brachte den Seewolf für einige Augenblicke in Schwierigkeiten, aber dann hatte Hasard zumindest seinen rechten Arm so weit frei, daß er dem Kerl die Faust unter die Kinnlade rammen konnte.
Siri-Tong hatte Gugnot, dem anderen Widersacher, beachtlich schnell die Muskete entrissen. Carberry wollte den Franzosen mit einem Hieb fällen, aber Ferris Tucker kam ihm zuvor. Seine Fingerknöchel massierten die Schläfe des Freibeuters, und dieser sank mit einem tiefen Seufzer zu Boden.
„Fesselt und knebelt die Burschen“, zischte der Seewolf. „Wir nehmen sie ein Stück mit. Wir können sie hier nicht einfach liegen lassen. Immerhin könnten sie sich befreien und uns dann verraten.“
Thomas Federmann hatte sich halb aufgerichtet. Er stützte sich auf seine Arme und stammelte: „Das – das geht nicht mehr mit rechten Dingen zu. Ich glaube, ich sehe doch Gespenster. Philip Hasard Killigrew, Siri-Tong, Carberry, Tucker – mein Gott, wie schrecklich ist doch der Wahnsinn.“
Smoky, Dan, Batuti, Sam, Matt und Jeff traten jetzt auch aus dem dichten Gebüsch hervor, und Hasards Decksältester wandte sich grinsend an den Deutschen. „Paß mal gut auf, was ich dir sage, mein Freund. Ich will auf der Stelle tot umkippen, wenn wir Geister oder so was Ähnliches sind. Unser Profos sieht zwar aus wie ein Monstrum aus dem Jenseits, aber das sollte dich nicht stören.“
„Wie war das?“ fragte Carberry.
„Ruhe“, raunte der Seewolf ihnen zu. „Himmel, es könnten noch mehr von diesen Kerlen im Dickicht stekken.“
„Ja, das halte ich auch für möglich, Hasard“, sagte Thomas Federmann. „Die beiden hier haben auf mich geschossen, und Masot hat daraufhin bestimmt jemanden losgeschickt, der nachsehen soll, was los ist.“
„Aha, er ist aufgewacht“, sagte Matt Davies.
„Den Rest kannst du uns später erzählen“, flüsterte Hasard dem Deutschen zu. „Mehr brauchen wir vorläufig nicht zu wissen. Kannst du dich auf den Beinen halten?“
„Ja. Jetzt sogar wieder sehr gut“, versetzte Thomas grimmig. „Aber wie seid ihr …“
„Später“, unterbrach ihn der Seewolf. „Zeig uns jetzt lieber, wie wir am schnellsten zum Strand der Lagune gelangen. Dan, gib Thomas deine Pistole und dein Messer, damit er nicht unbewaffnet ist.“
Dan befolgte den Befehl. Thomas Federmann nahm mit dankbarem Lächeln die Waffen entgegen, hob dann auch noch Gugnots Muskete auf und trat zu Hasard und zu Siri-Tong.
Batuti, Sam Roskill, Smoky und Dan O’Flynn hoben die reglosen Piraten Saint Cyr und Gugnot aus dem Dickicht auf. Hasard hatte sich wieder an den Kopf seines Trupps gebracht, blickte sich kurz um und fragte: „Alles in Ordnung da hinten?“
„Ja, Sir“, raunten die Männer.
„Dann los“, sagte er.
10.
Ben Brighton holte tief Luft und versuchte, nicht daran zu denken, was geschah, wenn sie auf ein Korallenriff liefen. Es wollte ihm nicht gelingen.
Gary Andrews lag vorn auf der Galionsplattform und lotete die Wassertiefe aus, aber das nutzte eigentlich herzlich wenig, denn wenn sich plötzlich eine Untiefe ankündigte, dann war es schon zu spät, um durch ein Manöver noch rechtzeitig ausweichen zu können. So ein Atoll war in seiner Struktur unberechenbar und äußerst trügerisch.
Ben Brighton stand auf der Back. Shane, Old O’Flynn und Al Conroy befanden sich in seiner unmittelbaren Nähe, und die Polynesier Andai, Moho und Numil hatten sich vorn über die Balustrade gebeugt, um nach allen Seiten Ausschau halten zu können und die „Isabella VIII.“ nach bestem Wissen und Vermögen durch die Passage zu schleusen.
Keiner sprach ein Wort.
Der Südostwind drückte die mit östlichem Kurs in die Lagune laufende Galeone immer weiter nach Norden hinauf. Ben mußte Überstag gehen und kreuzen, wenn er nicht ganz aus dem Kurs geraten wollte, aber er fragte sich verbissen, ob er überhaupt den Platz hatte, um auf den anderen Bug drehen zu können.
Gary Andrews stieß plötzlich einen verhaltenen Laut aus. Ben wußte nicht, ob es eine Warnung oder eine Erfolgsmeldung sein sollte, aber dann drehte sich Andai lächelnd um und bedeutete ihm durch eine Gebärde, daß sie es geschafft hatten. Tieferes Wasser war erreicht, die Passage lag hinter ihnen.
„Wir gehen auf Steuerbordbug und fahren einen Kreuzschlag nach Süden“, raunte Ben seinen Kameraden zu. „Al, gib das bitte nach achtern weiter.“
Al Conroy stieg zur Kuhl hinunter, um den Befehl weiterzuleiten.
Fast lautlos glitt die „Isabella“ durch die Lagune.
Picou