Auf den imaginären Mauna-Loa-Nordhang schrieb der Seewolf: „Dreizehn flüchtige Insulaner, darunter Waialae, Koa und Lanoko.“ Zwischen Kratergipfel und Pfahlhüttendorf trug er als letzten Hinweis ein: „Acht Piraten auf der Suche nach den Flüchtigen.“
Er sah auf. „Folglich haben wir insgesamt mit einunddreißig bis sechsunddreißig Gegnern zu rechnen“, sagte er. „Die ganze Crew der ‚Saint Croix‘ muß aus fast vierzig Mann bestanden haben. Jean, Marcel und dieser Glatzkopf sind tot, Luc und Richard befinden sich in unserer Hand. Die ‚Saint Croix‘ kann kein kleiner Kahn sein, jedenfalls nicht nach der Stärke ihrer Mannschaft zu urteilen. Wir müssen aufpassen, daß wir uns nicht die Zähne an ihr ausbeißen.“
„Wenn wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben, könnte unser Schlag vernichtend sein“, meinte die Rote Korsarin. „Verstehst du mich, Hasard?“
„Natürlich. Wir dürfen nicht abwarten, bis sie mit ihrem Dreimaster hier aufkreuzen. Wir müssen ihnen um einen Zug voraus sein.“
„Genau das.“
„Aber die ‚Isabella‘ wird unterbemannt sein, denn wir brauchen auch mindestens einen schlagkräftigen Landtrupp“, sagte der Seewolf.
„Zwei Landtrupps wären besser“, sagte Ben Brighton. „Denn wir müssen ja die im Dorf gefangengesetzten Eingeborenen befreien und auch Alewas Freunde, die zum höchsten Gipfel der Insel unterwegs zu sein scheinen, heraushauen.“
„Richtig“, sagte Hasard. „Aber damit würden zu wenige Leute an Bord unser alten Lady bleiben, das mußt auch du einsehen, Ben.“
„Ja, allerdings.“
„Ich gehe auch von der Hoffnung aus, daß Waialae, Lanoko, Koa und die zehn anderen Flüchtigen sich bislang vor ihren Verfolgern verstecken konnten.“
„Mit anderen Worten“, fragte die Rote Korsarin, „du willst als erstes in das Hauptdorf eindringen?“
„Ja. Mit so wenigen Männern wie möglich, damit die Crew hier auf der ‚Isabella‘ groß genug für ein Gefecht gegen die ‚Saint Croix‘ bleibt. Erst danach können wir uns auf die Suche nach den Frauen und Männern des Pfahlhüttendorfes begeben, von denen wir im übrigen ja nicht einmal genau wissen, wo sie stecken.“
„Also“, sagte sie. „Dann weiß ich schon, wie dein Plan in allen Details aussieht. Ja, er ist mir jetzt klar.“
„Wir brauchen nur noch die Männer für das Landunternehmen auszuwählen.“
„Nur Männer, Hasard?“
„Du willst diesmal mit auf die Insel?“
„Wenn auch du gehst …“
„Du hast gesehen, was wir riskieren.“
„Und der Kampf gegen die ‚Saint Croix‘?“ fragte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ist das kein Risiko? Du vergißt wohl, wer ich bin? Ich bin Siri-Tong – kein ängstliches Hausmütterchen, das sich beim ersten Kanonendonner in der Kombüse verkriecht.“
Er lächelte. „Oh, das habe ich nie vergessen. Also gut, einverstanden, du bist mit von der Partie, wenn wir zum zweitenmal landen. Ich würde ja gern die Dunkelheit abwarten, aber ich fürchte, bis dahin würde zuviel Zeit verstreichen.“
„Ja, das finden wir auch, Sir“, sagte Carberry im Namen der ganzen Crew.
Hasard blickte zu Alewa. „Alewa, ehe ich die Männer einteile, habe ich noch eine Frage an dich. Weißt du, wohin Masot mit der ‚Saint Vincent‘ gesegelt sein könnte? Ich meine, du hast doch vielleicht die Karte gesehen, die Thomas Federmann diesem Piratenführer vorgelegt hat.“
„Ja.“
„Und?“
Sie kaute ein wenig auf ihrer Unterlippe herum, dann entgegnete sie: „Erinnere mich nicht genau. Werde nachdenken, Lobo del Mar.“
„Tu das“, empfahl er ihr. „Deine Antwort ist sehr wichtig für uns, denn wir wollen versuchen, der ‚Saint Vincent‘ zu folgen und die Gefangenen zu befreien.“
„Wenn uns hier auf Hawaii nicht der Achtersteven versengt wird“, sagte der Profos.
„Mensch, mal doch den Teufel nicht an die Wand“, zischelte der alte O’Flynn. „Mußt du das denn so schwarz sehen?“
„Hört, hört!“ Carberry grinste höhnisch. „Ausgerechnet du mußt das sagen, Donegal. Ist dir nicht gut? Oder glaubst du wirklich, daß wir die Piraten so mir nichts, dir nichts in die Flucht schlagen und dann gleich weiterklüsen, um Thomas Federmann und dessen Freunde zu suchen? He, du bist wohl unter die Optimisten gegangen, was, wie?“
„Nein, bei ihm ist der zweite Frühling ausgebrochen“, meinte Blacky. „Seit Alewa an Bord ist, ist er wie umgewandelt, merkt ihr das nicht?“
„Ach wo, das sind nur die väterlichen Gefühle, die er so hat“, sagte Ferris Tucker, der sich ein Lachen kaum verkneifen konnte.
„Schluß jetzt“, sagte der Seewolf. „Kommen wir zur Sache. Ich habe meine Wahl getroffen. Siri-Tong, Dan, Smoky und Matt begleiten mich. Wir gehen an Land, und dann lauft ihr anderen aus, um den Kerlen an Bord der ‚Saint Croix‘ eine heiße Überraschung zu bereiten.“
„Augenblick“, sagte Ben Brighton. „Du willst doch wohl nicht noch einmal am Strand dieser Bucht landen, oder? Himmel, ich bin überzeugt, daß dieser Louis und die anderen Schnapphähne uns nach wie vor beobachten und nur darauf warten, daß eine Abordnung von uns ihnen vor die Läufe gerät.“
Hasard lächelte. „Aber sicher doch. Hört jetzt meinen Plan. Er ist einfach, aber trotzdem bin ich von seiner Wirksamkeit überzeugt. Die simpelsten Pläne sind ja oft die besten.“
„Sir“, sagte der Kutscher. „Eine bescheidene Frage noch. Es ist Zeit zum Backen und Banken, aber ich schätze, wir werden unsere Mittagsmahlzeit wohl verschieben.“
„Richtig, Kutscher. Lösch ruhig die Kombüsenfeuer.“
„Aye, Sir.“
„Männer“, sagte der Seewolf. „Wir gehen sofort ankerauf und verlassen die Bucht. Wir laufen nach Süden ab. Ja, ihr braucht mich gar nicht so verdutzt anzusehen. Es soll so aussehen, als ob wir von diesem ungastlichen Platz verschwinden. Louis und seine Galgenstricke sollen sich ruhig gehörig den Kopf darüber zerbrechen.“
8.
Der Pirat trug einen schwarzen, breitkrempigen Hut, unter dem einige dicke Strähnen schwarzen Haares hervorquollen. Sein einstmals wohl weißes, jetzt aber undefinierbar gefärbtes Hemd stand bis zum Bauchansatz offen, der Stoff bewegte sich leicht in dem warmen Wind, der von den Bergen herab übers Westufer der Insel auf die offene See hinausstrich. Die Beine des Mannes steckten in einer zerlumpten schwarzen Hose. Um seine Hüfte hatte er sich ein Stück rotes Tuch geschlungen und zusammengeknotet, offenbar war der Fetzen als eine Art Schärpe gedacht. Vor dem rechten Auge hielt der Mann einen langen Messingkieker, dessen Optik auf die große Bucht des Pfahlhüttendorfes gerichtet war. Sein Mund, der von einem ausgefransten, sichelförmigen Schnauzbart umrahmt war, verzog sich in diesem Moment zu einem triumphierenden Grinsen.
Er setzte das Rohr ab und blickte von dem Baum, auf dessen stärkstem Ast er sich seinen Platz ausgesucht hatte, auf die kleine Lichtung der Hügelkuppe hinunter.
„Brassens!“ rief er.
Der dicke Mann mit dem nackten Oberkörper, der unten mit der einen Schulter gegen den Stamm des knorrigen Baumes gelehnt stand, blickte zu ihm auf. „Was gibt’s? Tut sich was, Maurice? Rücken die Hundesöhne wieder an? Na, die werden sich wundern.“
„Nein“, sagte Maurice,