„Ja.“
„Kamen jemals Eingeborene von den Nachbarinseln, um nach dem Rechten zu sehen?“
„Nein, nie.“
„Wie verhielten die Piraten sich nun euch gegenüber?“
„Sie wollten uns – uns Frauen und Mädchen. Koa und Lanoko und andere junge Männer wehrten sich. Wurden niedergeschlagen.“ Wieder stiegen Tränen in ihren Augen auf. „Aber dann kam Tsunami. Und wir flohen. Ich verlor Brüder und Schwestern aus den Augen, verirrte mich. War verzweifelt. Zwei Nächte lang starb ich fast vor Angst. Überall Piraten, die uns suchten. Dann, heute früh, wollte ich ins Dorf zurückschleichen, ein Boot nehmen, nach Maui hinüber. Dort wollte ich um Hilfe flehen.“
„Jean und Luc hätten dir eine üble Falle gestellt“, sagte Hasard. „Mein Gott, wenn wir das alles geahnt hätten. Aber verrate mir, wo deiner Ansicht nach Waialae, Koa, Lanoko und die anderen stecken.“
Alewa richtete sich kerzengerade auf und wies mit dem ausgestreckten Arm zu den schneebedeckten Zwillingsgipfeln der Insel empor. „Dort hinauf vielleicht. Zu den Feuerseen. Zu Pele, der feuerspeienden Göttin von Hawaii. Dort oben einzige Rettung vor Verfolgern.“
Siri-Tong spähte zu den Bergen hinauf. „Was immer die Piraten dort oben erwarten mag, sie werden nicht zögern, in die Berge aufzusteigen und die Eingeborenen zu hetzen.“
„Ja“, sagte Hasard. „Und die anderen Gefangenen, Alewa? Sie sind doch nach wie vor im Hauptdorf zusammengepfercht, oder?“
„Ich glaube.“
„Die Tsunami hat dort keine Zerstörungen angerichtet?“
„Nein.“
„Und das Schiff der Piraten? Wo liegt es?“
Alewa deutete nach Norden. „In kleinerer Bucht.“
„Moment mal“, sagte Carberry. „Dann wundert es mich aber, daß diese triefäugigen Kakerlaken noch nicht mit ihrem Kahn aufgetaucht sind, um uns einen Schuß vor den Bug zu setzen und die große Schlacht zu eröffnen. Woran liegt das?“
„Ja, woran liegt das“, ahmte Ferris Tucker ihn nach. „Hör mal, hast du die Riesenwelle schon wieder vergessen?“
„Ach, richtig – vielleicht hat sie den Scheißkahn der Halunken ja gegen das Ufer geworfen. Vielleicht ist der Zuber sogar gestrandet. Ho, das wäre zu schön, um wahr zu sein, und wir …“
„Wir werden sie in ihrer kleinen Bucht besuchen, Ed“, unterbrach ihn der Seewolf. „Darauf kannst du dich verlassen. Nur müssen wir damit rechnen, daß sie ihren Dreimaster inzwischen wieder so weit instand gesetzt haben, daß sie damit auslaufen und ins Gefecht mit uns gehen können. Immerhin haben sie zwei Tage Zeit dazu gehabt.“
„Wir müssen uns beeilen“, sagte die Rote Korsarin. „Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr Möglichkeiten haben diese Hunde, einen Angriff auf uns zu planen und in die Tat umzusetzen.“
„Hasard und Philip“, wandte der Seewolf sich an seine Söhne. „Holt Papier und einen Federkiel. Wir entwerfen eine Skizze von der Insel und markieren die für uns wichtigsten Punkte darauf. Alewa, sag du mir bitte, wie viele Piraten sich deines Wissens an welchen Stellen der Insel aufhalten.“
Big Old Shanes mächtige Gestalt hatte sich zwischen die Männer geschoben. „Sir!“ rief er. „Der Kutscher sagt, ich soll mich aufs Ohr hauen, aber, Hölle, wenn wir gegen die verfluchten Franzosen losziehen, dann will ich dabeisein, hol’s der Henker!“
Hasard blickte zu ihm auf. „Wie fühlst du dich denn jetzt, Shane?“
„Prächtig.“
„Übertreibst du auch nicht?“
„Ich stehe ohne zu wackeln auf meinen Beinen, und die Schmerzen im Arm haben schon nachgelassen.“
„Er hat ein Drittel von dem Inhalt der Flasche ausgesoffen“, meldete Carberry. „Das hilft ganz schön, meine ich.“
Hasard lächelte. „Genehmigt, Shane, du bleibst im Dienst.“
„Danke, Sir.“
„Du bist nicht kleinzukriegen, was?“
„Da muß es schon dicker kommen“, erwiderte Big Old Shane. Er grinste und sah auch schon nicht mehr so blaß im Gesicht aus wie zuvor, als ihn die Kugel getroffen hatte.
Die Zeichnung, die der Seewolf von der Insel Hawaii zu Papier brachte, war natürlich bei weitem nicht so kunstvoll und genau, wie ein Thomas Federmann sie hätte anfertigen können. Aber für Hasards Zwecke genügte sie vollauf.
So von oben besehen, war Hawaii ein ungefüges, klobiges Etwas, dessen Form man in etwa mit der eines verunglückten Fladenbrotes vergleichen konnte. Nicht ganz in der Mitte, sondern leicht südwestlich verschoben befanden sich die Zwillingsgipfel des Mauna-Loa-Kraters, genau westlich davon die große, langgestreckte Bucht, an der das zerstörte Pfahlhüttendorf stand. Fünf Meilen nördlich kerbte sich nach Hasards Messungen und Berechnungen, die er aufgrund von Alewas Angaben gemacht hatte, die kleinere Bucht in die Küste, in der die Dreimast-Galeone der französischen Freibeuter ankern mußte.
„Saint Croix“, hieß diese Galeone, soviel hatte Alewa von ihren Bewachern – Jean und Luc und sieben anderen Kerlen – im Pfahlbautendorf vernommen.
„Saint Croix!!, dieser Name ließ darauf schließen, daß die Seewölfe es mit einer Meute hartgesottener Karibik-Piraten zu tun hatten. Saint Croix war eine kleine Insel, die gar nicht weit entfernt von Puerto Rico und der Mona-Passage lag, und nur sie konnte den Anlaß gegeben haben, daß die Freibeuter ihre Galeone auf diesen Namen getauft hatten.
„Saint Vincent“ hieß die Galeone von Masot, das größere Schiff, das mit Zegú, dem König von Hawaii, mit Thomas Federmann und zwanzig anderen Geiseln, darunter auch Mara und Hauula, irgendwohin unterwegs war. Diesen Namen hatte Alewa ebenfalls gehört, ehe Masot mit seiner Crew und seinen Gefangenen von Hawaii aufgebrochen war.
Mehr aber wußte das Mädchen über die beiden Schiffe nicht. Wie sie armiert waren, wußte sie zum Beispiel beim besten Willen nicht auszusagen.
„Saint Vincent“ – auch dieser Name war Hasard aus der Karibik bekannt. So hieß eine der Inseln unter dem Winde. Folglich war mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß Masot und seine Kerle irgendwann die lange Reise von der Karibik bis nach Feuerland hinunter gewagt hatten, dann den lebensgefährlichen, halsbrecherischen Törn durch die Magellan-Straße riskiert hatten und auf diese Weise in die Südsee gelangt waren. Es mußte ein Zufall gewesen sein, daß sie die Hawaii-Inseln gefunden hatten, denn offiziell war der Archipel noch nicht entdeckt worden, war also auf keiner Karte der seefahrenden Nationen verzeichnet. Es war schon ein ausgesprochenes Pech für die Insulaner, daß ausgerechnet eine grausame Seeräuberbande hier hatte landen müssen, nachdem sie ihr Inselparadies über Jahrhunderte hinaus so erfolgreich behütet und geheimgehalten hatten.
Hasard nahm die letzten Eintragungen auf seiner groben Skizze vor. Er saß immer noch auf der Kuhlgräting, hielt den Federkiel in der rechten Hand, tunkte die Spitze in das Tintenfäßchen, das Philip junior ihm hinhielt, und schrieb an die kleine Bucht fünf Meilen nördlich der Pfahlhüttensiedlung: „‚Saint Croix‘ mit zehn bis fünfzehn Piraten an Bord.“ An der großen, langgestreckten Bucht machte er den Vermerk: „‚Isabella‘ mit kompletter Crew und Alewa an Bord.“
Er zeichnete das Pfahlbautendorf ein, dann – rund zehn Meilen nördlich des Mauna-Loa-Nordhanges – das Hauptdorf im Inselzentrum. Hier brachte er den Hinweis „Zweihundert gefangene Insulaner