Impressum
© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-914-7
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Roy Palmer
Standrecht
Es gab kein Gericht – man knüpfte sie einfach auf
Alonzo de Escobedo war ein wandlungsfähiger Mann. Vor kurzer Zeit hatte er noch im Kerker von Havanna gehockt – in der Gewißheit, am Halse langgezogen zu werden. Jetzt war er ein freier Mann. Dann, am 10. Juli, hatte er gedacht, die Niederlage nicht ertragen zu können – sein heroischer Sturm auf das Gefängnis war von dem Hundesohn José Cámpora und dessen Wächtern zurückgeschlagen worden. Kein Mann hatte mehr für de Escobedo kämpfen wollen.
Doch jetzt, in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli, sah wieder alles ganz anders aus. De Escobedo durfte sich bereits als Sieger fühlen. War es nicht phantastisch, wie alles klappte? De Escobedo rieb sich die Hände und lachte in sich hinein. Endlich hatte er die Gelegenheit seines Lebens, allen zu zeigen, was für ein hervorragender Stratege er war.
Die Hauptpersonen des Romans:
Gonzalo Bastida – Der dicke Wirt hängt unversehens an einem Mauerhaken seiner Kneipe und muß mit ansehen, wie ein Hurrikan durch den Schankraum rast.
Alonzo de Escobedo – Der abgesetzte Gouverneur von Havanna träumt vom Sturm auf die Residenz, landet aber in einem Kellerloch.
Cuchillo – Der Leibwächter Bastidas muß auf den Einsatz seines Messers verzichten – die Faust seines Gegners erweist sich als schneller.
Jean Ribault – Mit einem Kampftrupp der Mannen vom Bund der Korsaren hebt er in Havanna einiges aus den Angeln.
Inhalt
1.
Er war ein Mann der ersten Linie, ein Offizier von der eisenharten Sorte. Nichts vermochte ihn zu beeindrucken oder gar zum Zaudern zu bringen. Die Belagerung der Residenz war in vollem Gange. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann würde er, de Escobedo, als neuer Regent den Gouverneurspalast beziehen.
Ein großes, quadratisches Haus mit Fensterläden stand an der Plaza von Havanna, ganz aus wuchtigen Quadersteinen errichtet. Vor wenigen Tagen hatten hier noch die Besitzer – reiche Bürger – gewohnt. Jetzt hatte de Escobedo das Gebäude als „provisorische Residenz“ ausgewählt. Hier hatte er sein Hauptquartier und seinen Befehlsstand eingerichtet.
Er thronte auf einem wertvollen geschnitzten Holzgestühl im Saal des Hauses und hatte vor sich auf einer riesigen Eichenholztafel Pergamentrollen ausgebreitet. Über ihm waren mit Ornamenten verzierte Deckenbalken, von den Wänden blickte eine auf Ölgemälden festgehaltene Verwandtengalerie auf ihn herunter.
Als mit der Belagerung begonnen worden war, hatte Alonzo de Escobedo seinen Stand noch direkt unter den Kerlen gehabt, mitten zwischen den Barrikaden. Inzwischen war das nicht mehr erforderlich. Er brauchte den Angriff nicht mehr aus nächster Nähe zu leiten. Es genügte, hin und wieder eine Inspektions- und Kontrollrunde zu unternehmen.
Die Kerle – mehr als hundert Mann, allesamt Galgenstricke und Lumpenhunde – wußten, was sie zu tun hatten. Hin und wieder wurde mit Drehbassen auf die Residenz gefeuert. Das gehörte zur Taktik. Es galt, die Gegner, die sich hinter den dicken Mauern des Palastes verschanzt hatten, weichzukochen und auszuhungern.
Viel hatten die Eingeschlossenen sicherlich nicht mehr zu beißen – und auch am erforderlichen Wasser würde es ihnen sehr bald mangeln. Hinzu kam, daß Bastida Ochsen und Ferkel an Kochstellen rund um die Plaza zubereiten ließ. Der Duft wehte natürlich bis zur Residenz. Ganz gehörig mußte dem „Pack“, das dort Zuflucht gesucht hatte, mittlerweile der Magen knurren.
De Escobedos Truppe hatte indessen satt zu essen und reichlich zu trinken. Der Wein floß in Strömen. Und es mangelte auch sonst an nichts. Bastidas „Schnepfen“, die nun sozusagen als Marketenderinnen eingesetzt wurden, versorgten die Kerle mit käuflicher Liebe. Zur Zeit waren die Preise besonders niedrig – ein Sonderangebot des schlauen Bastida.
Überhaupt, dieser Gonzalo Bastida! De Escobedo war froh, sich mit ihm verbündet zu haben. Der dicke Kaschemmenwirt war seine letzte Rettung gewesen. Ohne Bastida hätte de Escobedo niemals wieder eine Streitmacht auf die Beine gestellt. Mit Gewalt hatte der Dicke die Kerle rekrutieren lassen. Bastida verfügte über die erforderlichen Mittel, die Macht und die Handlanger dafür.
Seine vier Leibwächter Cuchillo, Gayo, Rioja und Sancho sowie die „Soldados“ – eine Schlägertruppe – hatten an allen Ecken und Enden der Stadt das üble Gelichter zusammengetrieben. Cuchillo und Gayo hatten nur ein paar Exempel zu statuieren brauchen, und schon war der Rest der Plünderer von Havanna mit fliegenden Fahnen zu Gonzalo Bastida übergelaufen.
Daß sie es nicht schlecht hatten, das war den Kerlen inzwischen klargeworden. Keiner dachte auch nur im Traum daran, abzuhauen. War das nicht ein feines Leben? Man aß und soff, und so ganz nebenbei wurde dabei die Residenz vereinnahmt. Zwischendurch war sogar noch Zeit zum Herumhuren.
Und wenn die Verteidiger der Residenz endlich die Fahne strichen, würde man den Palast mit Hurra und Gebrüll stürmen, die Frauen vergewaltigen und die Schatzkammern plündern.
So einfach war das. Havanna gehörte dem Mob. De Escobedo und Bastida würden die neuen Herrscher der Stadt sein – de Escobedo offiziell als neuer Gouverneur, Bastida als graue Eminenz und Fadenzieher im Hintergrund. Mit Havanna gehörte ihnen auch Kuba. Spanien und der König waren weit weg. Man konnte leben wie die Made im Speck.
De Escobedo betrachtete lächelnd seine Aufzeichnungen. Mal öffnete er die eine Pergamentrolle, dann die andere. Er hatte verschiedene Pläne entworfen, wie die Kerle beim Sturm in die Residenz eindringen und sogleich die neuralgischen Punkte besetzen sollten.
Des weiteren hatte er über einen Um- und Ausbau des Palastes nachgedacht. Ideen waren genug vorhanden. De Escobedo hatte sich fest vorgenommen, sie alle in die Tat umzusetzen.
Bastida sollte ruhig glauben, daß er später auch seine Position als Chef der Unterwelt von Havanna behalten würde. De Escobedo beließ ihn bei dieser Annahme. Später würde er dem Dicken schon zeigen, wer hier die Nummer eins war.
Irgendwann würde Bastida verschwinden. Im Dschungel. Von wilden Tieren zerfetzt, von einer giftigen Schlange gebissen. Oder im Meer. Bei einem Bootsausflug verunglückt. Oder im Kerker der Residenz. Bastida würde nicht der erste sein, der in dem Gewölbe jämmerlich verreckte.
Don Antonio de Quintanilla hatte es ja schließlich vorexerziert, wie man mit lästigen Mitwissern oder Frechlingen umsprang. Sie hatten kein sehr langes Leben. Doch vorläufig war dies noch Zukunftsmusik. De Escobedo mußte mit den Wölfen heulen. Bastida und dessen Bande waren ihm Mittel