Das Stadtgefängnis befand sich an der linken Flußseite, von See her gesehen, im Westen also, und zwar etwa zweieinhalb Meilen vom Hafen entfernt. Diese Entfernung mußte noch zurückgelegt werden. Eino Pekkanen, Hasard, Carberry und alle anderen Männer an Bord der Boote schwiegen, doch sie beobachteten mit wachsender Besorgnis, wie sich die große Gruppe von Menschen, die sich am Kai zusammengeschart hatte, jetzt an das Ufer des Flusses verlagerte.
Gruppenweise rotteten sich die Bürger zusammen und begleiteten die Boote im Laufschritt. Ihre Zahl wuchs ständig, ganz Abo schien auf den Beinen zu sein. Die meisten Männer hatten rauchgeschwärzte Gesichter, ihre Kleidung war angesengt. Auch Frauen erblickte der Seewolf, und sogar ein paar Halbwüchsige schlossen sich der Versammlung an.
„Da sitzt der Schweinehund!“ rief jemand.
„Stoßt ihn ins Wasser!“ schrie eine Frau. „Na los! Ersäuft ihn!“
Stenmark wurde wieder seiner Pflicht als Dolmetscher gerecht. Was er übersetzte, steigerte Hasards innere Unruhe. Big Old Shane warf einen langen Blick auf die Leute, die neben den Booten herliefen, und sagte: „Die sind außer sich vor Wut. Denen genügt nicht, daß wir die Kerle geschnappt haben.“
„Da braut sich was zusammen“, sagte nun auch Ferris Tucker.
„Ja“, pflichtete Smoky ihm bei. „Alles deutet darauf hin, daß die Leute nicht übel Lust haben, Korsumäki und die sechs Halunken eigenhändig am nächsten Baum aufzuhängen.“
„Natürlich wollen sie Selbstjustiz üben“, sagte Hasard. „Ich kann ihre Reaktion sogar verstehen. Aber Pekkanen scheint mir nicht der Mann zu sein, der vor irgendwelchen Bedrohungen kapituliert. Niemals würde er die Gefangenen den Bürgern zum Fraß vorwerfen.“
„Ganz bestimmt nicht“, meinte Dan O’Flynn. Er sah zu dem Boot des Stadtkommandanten hinüber. Pekkanens Miene war hart geworden, sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt.
Er hielt eisern daran fest, daß alles seine Richtigkeit haben mußte. Mit anderen Worten: Paavo Korsumäki und die sechs Mitgefangenen sollten vor ein ordentliches Gericht gestellt werden, das dann darüber befinden würde, wie die Kerle zu bestrafen waren.
Daß es die Todesstrafe sein würde, war ohnehin sicher. Aber es mußte Recht gesprochen werden. Kein Weg führte daran vorbei, und Eino Pekkanen war trotz des Verständnisses, das auch er für den seelischen Zustand seiner Landsleute aufbrachte, fest entschlossen, die neun Delinquenten in den Kerker zu sperren.
Natürlich hatte auch Paavo Korsumäki ganz genau verfolgt, was sich an Land abspielte. Er war wieder voll Herr seiner Sinne. Das Bewußtsein hatte er ja bereits am Ufer der Insel wiedererlangt, und die Kopfschmerzen, die er verspürt hatte, nachdem seine Kumpane ihn niedergeschlagen hatten, waren auch fast völlig verflogen. Was er jetzt empfand, war Haß. Abgrundtiefer Haß – gegen seine Gefährten, die ihn im Stich gelassen hatten, gegen die Männer der „Isabella“, gegen die Gendarmen und gegen die Bevölkerung.
Alles, was er begonnen hatte, war fehlgeschlagen. Er hatte die Fremden töten wollen und mit ihnen die Bürger von Abo, die sich auf Geschäfte mit diesen „Christenhunden“ eingelassen hatten. Ausrotten hatte er sie wollen, und danach wäre er zum unumschränkten Herrscher der Küstenregion aufgestiegen, der sich gegen jeden Versuch der Schweden, Abo zurückzuerobern, erfolgreich zu wehren gewußt hätte. Die Schweden verwalteten Finnland, auch sie waren Paavo Korsumäkis Todfeinde.
Zwar hatte das Feuer verheerend gewütet, aber die Bürger von Abo und vor allem die verfluchten Engländer lebten noch. Ja, eigentlich verdankte er, Korsumäki, seine Niederlage diesen Fremden. Daß ihm jetzt die Hölle auf Erden bevorstand – die er in der Nacht den Bürgern bereitet hatte – konnte er sich an den fünf Fingern abzählen. Er mußte ihrer Rache entgehen.
Plötzlich stand sein Plan fest. Er würde sich von ihnen nicht hängen und tottrampeln, steinigen oder niederknüppeln lassen. Dieser Schmach würde er entgehen.
Plötzlich fuhr er trotz seiner auf den Rücken gefesselten Hände von der Ducht hoch, ehe auch nur einer der Gendarmen ihn daran hindern konnte, und sprang vom Boot in den Fluß. Pekkanen zuckte zu ihm herum und stieß einen wütenden Laut aus. Einer der Gendarmen griff mit der Hand nach Korsumäkis Fußknöchel, doch sein Handeln erfolgte zu spät.
Schon schlugen die Fluten mit einem Klatschen über Paavo Korsumäki zusammen. Er tauchte unter. Zunächst sah es so aus, als müsse er unweigerlich ertrinken, weil er sich mit den gefesselten Händen nicht fortbewegen konnte. Doch das war eine Täuschung. Korsumäkis einziger Gedanke lautete Flucht, und trotz seiner scheinbar ausweglosen Lage war er mit der ihm eigenen Wildheit und Verbissenheit darum bemüht, den Plan in die Tat umzusetzen.
Hasard hatte so etwas bereits geahnt und unausgesetzt Paavo Korsumäki beobachtet. Jetzt erhob er sich von seinem Platz im Heck der großen Jolle.
„Shane, übernimm du die Pinne!“ rief er.
Pekkanens Soldaten fluchten und schrien, an Land grölten die Männer von Abo, und die Frauen stießen schrille Rufe aus. Wuhling herrschte plötzlich, doch der Seewolf ließ sich dadurch nicht in seinem Vorhaben beirren. Noch bevor irgendein anderer Mann reagierte, hechtete er außenbords und nahm die Verfolgung Korsumäkis auf.
Er streckte die Arme vor, tauchte unter und begann sofort zu schwimmen. Gewandt bewegte er sich dicht unter der Wasseroberfläche dahin. Die Männer in den Booten konnten seine Gestalt noch ziemlich deutlich erkennen und sahen, in welche Richtung er sich wandte.
„Flußabwärts!“ schrie Dan O’Flynn. „Los, ihm nach! Vielleicht braucht er unsere Hilfe!“
Shane hatte die Ruderpinne übernommen. Die Crew begann wieder zu pullen, und auch Carberrys Boot nahm erneut Fahrt auf.
„Ruckst, daß euch die Schwarte kracht!“ brüllte der Profos. „Laßt diesen finnischen Oberbastard nicht entwischen!“
In den Booten Pekkanens herrschte immer noch Zustand, denn auch Korsumäkis sechs Kumpane waren von den Duchten aufgesprungen und versuchten zu fliehen. Aber diesmal waren die Gendarmen und Soldaten auf der Hut. Sie hielten die Kerle an Armen und Beinen fest und zwangen sie auf ihre Plätze zurück.
Nur einem der Gefangenen gelang es, sich loszureißen und sich über die Bordwand zu stürzen. Doch kaum hatte das Wasser des Aura ihn aufgenommen, beugten sich die Männer des Stadtkommandanten aus den Booten, packten ihn und zerrten ihn wieder heraus.
Die anderen Kerle, die sich immer noch aufsässig zeigten, wurden mit ein paar Hieben zur Vernunft gebracht. Eino Pekkanens scharfe Befehle trieben die Gendarmen zum Handeln an, und im Nu war die Ordnung in allen Booten wiederhergestellt.
Shane und Carberry hatten die Jollen der „Isabella“ unterdessen gewendet, indem sie die Pinnen hart herumgedrückt hatten. Die Boote schoben sich vom Westufer zum Ostufer des Flusses, wurden von der Strömung erfaßt und glitten, noch in der Drehung befindlich, mit rascher Fahrt in Richtung auf den Hafen zurück. Wieder korrigierten der graubärtige Riese und der Profos den Kurs, so daß sie zum westlichen Ufer zurückkehrten, wo die Gestalt des Seewolfes ihnen unter der Wasseroberfläche allmählich wieder näher rückte.
Aber auch die Bürger von Abo hatten sich umgedreht und rannten den Jollen nach.
„Korsumäki will abhauen!“ schrie Kaarlo Tanner außer sich vor Wut.
„Haltet ihn!“ rief eine Frau, die mit wehenden Röcken neben ihm hereilte. „Er darf nicht fliehen! Faßt ihn! Reißt ihn nieder, schlagt ihn tot!“
Paavo Korsumäki war in der Zwischenzeit eine beachtliche Strecke weit getaucht. Als er aber nach Luft schnappen mußte und den Kopf aus dem Wasser hob, griffen die Männer und Frauen an Land Steine auf und warfen sie nach ihm.
Korsumäki stieß eine Verwünschung