Er hörte leise Stimmen. Regungslos hockte er da und wagte nicht, sich zu rühren. Erst nach und nach wurde ihm bewußt, daß die Männerstimmen nicht ihm galten, obwohl sie sich nicht weit entfernt befanden.
Der Stollen hatte ihn zum Fuß der Felsen hinuntergeführt, und er konnte, wenn ihn sein Orientierungsvermögen nicht täuschte, nicht mehr weit vom Lager der Piraten entfernt sein. Mardengos Schatzversteck hatte also zwei Zugänge, und beide waren hervorragend durch die Natur getarnt.
Hasard wagte sich aus seiner Deckung hervor. Er robbte ein Stück auf dem Boden entlang und war weiterhin auf der Hut. Bisher waren keine tödlichen Fallen mehr aufgetaucht, doch das wollte nichts heißen. Er mußte auch weiterhin damit rechnen.
Seine Vorsicht zahlte sich aus. Er war nur wenige Yards in die Richtung gekrochen, in der sich nach seinen Schätzungen das Lager befand, da entdeckte er ein dünnes Tau, das in Knöchelhöhe über dem Boden gespannt war. Er verharrte und war versucht, das Tau mit der Hand zu berühren, vermied es aber.
Wieder schaute er sich nach allen Seiten um. Kein Gegner war zu entdecken, niemand schien im Hinterhalt zu lauern. Behutsam erhob er sich und folgte dem Verlauf des Taus mit dem Blick. Es führte bis zu einem Baum mit dickem Stamm, von dort nach oben weiter und endete in einer Astgabel, die sich gut vier Yards über dem Boden ausstreckte. Steine baumelten von dem Ast herab. Wer gegen die Schnur trat, löste einen simplen Mechanismus aus, der die Halterungen der Steine lockerte. Sie stürzten dann zu Boden – dicke Brocken, die einen ausgewachsenen Mann ohne weiteres erschlagen konnten.
Hasard stieg über den Fallstrick und schlich weiter. Trotz des nachlassenden Lichtes sah er eine Fallgrube, die auf die übliche Weise zugedeckt und getarnt worden war. Er tauchte seitlich im Dickicht unter und brachte auch dieses Hindernis hinter sich. Weitere Fallen fand er nicht, und er war dem Lager jetzt sehr, sehr nahe, wie er der zunehmenden Lautstärke der Stimmen entnahm.
Mardengo hatte die Fallen nicht nur geschaffen, um sich gegen etwaige Angreifer der Insel zu sichern. Er wußte sich auf diese Weise auch gegen seine eigenen Kumpane zu schützen, denen früher oder später durchaus einfallen konnte, sich den Schatz anzueignen und damit zu verschwinden – spurlos und auf Nimmerwiedersehen.
Hasard kannte die Mentalität von Piraten dieser Sorte zur Genüge. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, gewiß, aber sie benahmen sich untereinander auch wie wilde Tiere, die ohne erkennbaren Anlaß zu den gefährlichsten Ausbrüchen fähig waren. Unberechenbar waren sie, eiskalt und skrupellos. Das wußte auch Mardengo. Er hatte sich auf jeden Eventualfall vorbereitet und eingerichtet. Er würde nicht zulassen, daß man ihn hinterging und betrog.
Hasard tat Schritt um Schritt auf die Lichtung zu und konnte jetzt das rauhe Lachen eines Mannes vernehmen. Das Dickicht wurde undurchdringlich, er mußte sich mit dem Entermesser einen Weg bahnen. Mangroven und Lianen schienen ihm den Zutritt zum Lager verweigern zu wollen, und er durfte nicht zu heftig zuschlagen, um sich nicht zu verraten.
Endlich hatte er es geschafft. Er blieb stehen, steckte das Entermesser weg und duckte sich. Dann teilten seine Hände vorsichtig Zweige und Blätter, und er konnte einen Blick auf die Lichtung werfen.
Zwischen zwei Hütten hindurch sah er zu Mardengo und Oka Mama, die soeben mit ihren Gefangenen eingetroffen waren.
Mardengo war es, der gelacht hatte. Er schien sich kaum beruhigen zu können und kostete seinen Triumph voll aus, als er die betretenen Gesichter seiner geschlagenen Gegner sah.
Hasard mußte sich bezwingen. Er hätte das Überraschungsmoment ausnutzen und sich in einer blitzschnellen Attacke auf Mardengo werfen können, doch das hätte ihm wenig genutzt. Oka Mama, der Korse und acht andere Piraten bewachten die Gefangenen. Er hätte den Kampf gegen sie allein bestreiten müssen, denn die Arwenacks waren gefesselt. Ehe er auch nur einen von ihnen befreit hatte, würden sich die Piraten auf ihn werfen. Nein, es hatte keinen Zweck. Er mußte einen günstigeren Zeitpunkt für seine Aktion abwarten.
Ferris, der vermeintliche Seewolf, trat dicht vor Mardengo hin. Mardengo hatte den Schwindel nicht erkannt, und jetzt, im Dunkelwerden, würde er erst recht nicht begreifen, daß man ihn getäuscht hatte. Darauf baute Ferris. Er mußte jetzt wissen, wo Roger und Sam waren. Waren sie wohlauf – oder waren sie verletzt wie Carberry?
Carberrys Schulterwunde hatte aufgehört zu bluten. Dem Kutscher und Mac Pellew war es gelungen, während des Marsches durch den Inseldschungel neben ihm zu gehen und ihn notdürftig zu untersuchen.
„Du hast Glück gehabt, Ed“, sagte der Kutscher leise. „Wenn der Schnitt nur etwas tiefer ausgefallen wäre, hätte ich dich operieren müssen.“
„Der Henker bewahre mich davor“, brummte der Profos. „Das hätte mir gerade noch gefehlt. Such dir ein anderes Opfer.“
„Keine Angst, das wächst sich wieder zurecht, Ed“, sagte Mac Pellew mit tieftrauriger Miene. „Aber selbst wenn wir den Arm amputieren müßten, wäre das nicht so schlimm. Sieh dir Donegal an, wie glücklich der mit seinem Holzbein lebt.“
„Halt’s Maul!“ zischte Carberry. „Dein Gequatsche hat mir gerade noch gefehlt.“ Immer wieder suchte er mit seinem Blick nach Roger und Sam, aber sie tauchten nirgends auf.
Es war der reine Galgenhumor, der die Seewölfe aufrecht hielt. Sie wußten gut genug, was sie erwartete, wenn Hasard nicht rechtzeitig genug auftauchte und eingriff. Mardengo würde sein Wort nicht halten. Er und seine Kerle würden sich einen grausamen Spaß daraus bereiten, ihre Gefangenen zu quälen. Sie würden sie töten, einen nach dem anderen.
„Wo sind Roger Brighton und Sam Roskill?“ fragte Ferris laut. „Wir haben ein Recht darauf, es zu erfahren!“
„Ein was?“ Mardengo lachte wieder. „Ein Mann in deiner Lage hat kein Recht mehr, Killigrew, auf nichts! Du hast lediglich meine Fragen zu beantworten. Soll ich sie dir gleich stellen oder noch ein bißchen warten?“
„Frag, was du willst“, sagte Ferris. „Du kriegst von mir keine Antwort, bevor ich nicht weiß, wo Roger und Sam sind.“
„Sag’s ihm!“ zischte Oka Mama. „Na los, verrate es ihm doch, mein Sohn.“
Mardengo richtete seine Pistole auf Ferris. „Geh vor mir her. Ich führe dich zu deinen Freunden. Dann quetsche ich dich aus, verlaß dich drauf. Du wirst noch darum betteln, mir alles verraten zu dürfen, zum Beispiel, wo eure Schätze liegen.“
„Schätze?“ Ferris’ Verblüffung schien echt zu sein. „Wir haben keine Schätze. Wir sind arm wie Kirchenmäuse.“
„Noch viel ärmer“, fügte Ben Brighton hinzu.
Der Musketenkolbenhieb eines Piraten brachte ihn zum Verstummen. Mardengo trat Ferris mit voller Wucht in die Seite, Ferris taumelte, stürzte aber nicht.
„Lauf!“ brüllte Mardengo. „Siehst du die Hütten? Vor der kleinsten bleibst du stehen! Du willst deine Freunde sehen? Ich zeige sie dir!“
Ferris stolperte zu der Hütte und blieb vor der niedrigen Tür, die aus Schiffsplanken zusammengezimmert war, stehen. Eine saumäßige Arbeit, dachte er wütend, jeder Anfänger hätte das besser gekonnt.
Mardengo gab einem seiner Kumpane einen Wink, und der Kerl riß die Tür auf. Mardengo, trat erneut nach Ferris, und Ferris vollführte einen Satz in die Hütte hinein. Seine Fußstricke brachten ihn zu Fall, er blieb keuchend zwischen den beiden Männern liegen, die sich im Dunkel der Behausung aufrichteten.
„Da hast du sie!“ schrie Mardengo. „Bist du jetzt zufrieden?“
„Seid ihr’s wirklich?“ fragte Ferris.
„Ich bin Roger“, gab Bens Bruder gedämpft zurück. „Und hier liegt Sam. Sie haben uns ein bißchen vermöbelt, sonst sind wir aber ganz munter. Aber wer bist du? Ferris? Du siehst aus wie Hasard.“
„Halt den Mund“, sagte der rothaarige Riese grob. „Die Hunde scheinen zwar kein Wort Englisch zu verstehen, aber wir dürfen nicht riskieren, daß